Berlin. Der Druck des russischen Regimes auf seine Kritiker ist brutal. Viele junge Menschen wollen fliehen. Die deutsche Politik soll helfen.

Die junge russische Journalistin, die hier nur Katya heißen soll, hat seit einigen Wochen ihren Reisepass immer bei sich. „Für alle Fälle, falls ich schnell das Land verlassen muss. Dann kann ich damit immerhin zum Flughafen fahren“, sagt sie. Raus aus Putins Russland, das seit Beginn des Krieges für viele Gegner und Kritiker, aber auch für unabhängige Journalisten, zu einem übermächtigen Reich der Repression geworden ist. Zu einem Reich der Angst.

„Seit Kriegsbeginn leben wir in einer Zensur-Hölle, sowohl privat als auch beruflich“, sagt Katya. Wir telefonieren mit ihr über einen verschlüsselten Messengerdienst. Es gehe soweit, dass sie und ihre Kolleginnen und Kollegen der Redaktion sich manchmal schon nicht mehr trauen, Fachleute zum russischen Militär oder zu Putins Politik zu interviewen. Neulich sei ein Journalistenfreund von einem „Experten“ bedroht worden. Der habe ihn anzeigen wollen, wegen Verleumdung und Verbreitung von Falschinformationen. „Darauf stehen in Russland bis zu 15 Jahre Haft“, sagt Katya.

Katya ist 23 Jahre alt. Sie schreibt für eine der wenigen regierungskritischen Medien in Russland. Seit dem Kriegsbeginn schreibt sie nicht mehr unter ihrem richtigen Namen, von „Krieg“ darf ohnehin niemand sprechen, ohne Strafe zu fürchten. Erlaubt ist nur das Wort „militärische Spezialoperation“, so schreibt es Putin vor.

Festgenommen, weil sie Putins Krieg nicht ertragen: In Russland geht die Polizei brutal gegen Demonstranten vor – wie hier in Moskau.
Festgenommen, weil sie Putins Krieg nicht ertragen: In Russland geht die Polizei brutal gegen Demonstranten vor – wie hier in Moskau. © AFP/Getty Images | Getty Images

Russische Sicherheitbehörden auf der Jagd nach Kritikern

Putins Russland war immer nur eine „Schein-Demokratie“, eine Art Imitation westlicher Rechtsstaaten. Doch seit zehn Jahren forciert die Staatsmacht die Verfolgung von Oppositionellen, von unabhängigen Medien und kritischen Künstlern. Der Krieg in der Ukraine aber hat den Staat mit autoritären Zügen für viele in eine Diktatur gewandelt. Sie fühle sich „machtlos und verzweifelt“, sagt Katya. „Man wacht mit dieser Angst auf und schläft damit ein.“

Katya ist besonders im Visier der Sicherheitsbehörden. Doch auch andere junge Menschen sind frustriert, wütend, verängstigt. Unsere Redaktion hat mit der Moskauer Studentin Alexandra gesprochen, die sich ihre Fingernägel in der Farbe der Ukraine lackiert hat, blau und gelb. Und die sagt, dass sie in der Stadt ihre Hände lieber in den Taschen vergrabe. Zuviel Polizei, zu viel Geheimdienstler.

Menschen wie die Moskauer Lehrerin Anna, die einige junge Männer kenne, die versuchen würden, dem Armeedienst zu entkommen. „Viele versuchen abzutauchen, versuchen Ärzte zu bestechen für ein Attest. Niemand will in die Armee, sie ist voll von Gewalt“, sagt sie.

Es gibt Menschen wie Marina, 33 Jahre alt, die Zahnärztin ist. „Ich war viermal bei einer Anti-Kriegs-Demo, seit dem letzten Mal traue ich mich aber nicht mehr hin“, sagt sie. Marina habe gesehen, wie die Polizei selbst Omas verhaftet und jungen Mädchen mit Schlagstöcken in die Kniekehlen geschlagen habe. Marinas Freund sei für sechs Stunden in Gewahrsam gekommen. Er habe auf Knien hocken müssen.

Es gibt neben Berichten von Augenzeugen auch Fotos von verhafteten Kindern in Polizeibussen. Marina ist nun vorsichtig geworden, fast panisch, sagt sie selbst. Wenn sie mit der Moskauer U-Bahn zur Arbeit fährt, nimmt sie ihre Sim-Karte aus dem Handy. „Ich beobachte fast jeden Tag, wie die Silowiki wahllos Leute aus der Menge auswählen und ihnen die Handys abnehmen.“ Silowiki, das sind Geheimdienst-Mitarbeiter. Vollstrecker des Regimes im Kreml.

Innenministerin Faeser will politisch Verfolgte besser schützen

Was Katya, Alexandra und Marina eint: Sie wollen weg. Doch sie sagen auch: Sie wissen nicht wie und wohin. Sie fühlen sich gefangen in Putins Reich. Es ist die Lage von Menschen wie die der drei jungen Russinnen, die nun auch die deutsche Innenministerin beunruhigt. Im Gespräch mit unserer Redaktion sagt Nancy Faeser: Die Bundesregierung sehe, dass die Asylzahlen von Menschen, die zum Schutz vor Repressionen aus Russland hierher fliehen, nicht stark angestiegen sind in den vergangenen Kriegswochen. „Uns besorgt das“, sagt die SPD-Politikerin.

Laut Faeser könnte das auch bedeuten, dass „Menschen, die vor Putins Politik fliehen müssen, es vielleicht nicht bis nach Deutschland schaffen“.Tatsächlich sind die Asylzahlen aus Russland auf niedrigem Niveau. Und steigen auch nicht an. Zwischen Januar und März 2022 stellten Russinnen und Russen 388 Asylerstanträge in Deutschland, im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es 310 Asylerstanträge. Darunter waren nach Informationen unserer Redaktion auch einzelne Männer, die keinen Militärdienst in Russland leisten wollen.

Doch: Der Krieg zeigt bisher keine Auswirkungen auf das deutsche Asylsystem – zumindest nicht durch Menschen, die vor Putins Verfolgung fliehen. Dabei sind die Grenzen offen – trotz aller Sanktionen der EU gegen Russland. Trotz internationaler Ächtung des Regimes in Moskau. Aber: Fluglinien aus Russland haben Landeverbot in der EU.

Vielen Russen fehlt das Geld zum Ausreisen

Nur über Umwege, zum Beispiel Dubai oder Istanbul, können Menschen hierher fliegen, und das ist teuer. Die Flugpreise, so erzählen es Menschen in Russland, hätten sich zudem verdoppelt oder verdreifacht. Die Journalistin Katya und die Studentin Alexandra sagen, ihnen fehle schlicht das Geld, um auszureisen. Ohnehin sind auch in Russland die Preise zum Leben zuletzt stark angestiegen.

Menschen aus der Ukraine können ohne Visum nach Deutschland fliehen. Millionen sind auf der Flucht, vor allem aus der Ostukraine, weil dort ihre Häuser zerbombt werden, weil Essen und Trinken fehlt und die Lage an der Front lebensgefährlich ist. Für Ukrainer gilt in der EU die Massenzustromrichtlinie, einen Schutztitel stellen deutsche Behörden schnell aus, ein Asylverfahren ist nicht notwendig. Bis zu drei Jahre können die Menschen aus dem Kriegsgebiet hier leben und arbeiten.

Unterdrückt und bestraft seine Kritiker: Russlands Präsident Wladimir Putin.
Unterdrückt und bestraft seine Kritiker: Russlands Präsident Wladimir Putin. © AFP | Sergei Guneyev

Für Russinnen und Russen gilt das nicht. Sie benötigen ein Schengen-Visum, um in die EU zu reisen. Katya sagt, es sei „derzeit fast unmöglich ein Visum für europäische Länder zu bekommen“, vor allem, wenn man als Journalistin arbeite. Vor einigen Wochen habe sie zu einem Seminar nach Griechenland gewollt. Die Veranstaltung sei von der Boris-Nemzow-Stiftung organisiert gewesen, benannt nach dem ermordeten russischen Oppositionellen. „Ich stellte einen Antrag auf ein Visum, bekam jedoch kommentarlos eine Absage. So etwas passiert hier ständig“, sagt Katya.

Russland und die EU: Das Problem mit dem Schengen-Visum

Andere haben ein Visum bekommen. Unsere Redaktion steht mit Menschen in Kontakt, die es nach Deutschland und die EU geschafft haben. Darunter auch Künstler, Filmemacher, Umweltaktivisten. Die Lehrerin Anna sagt, es sei möglich, zu einer der Botschaften zu gehen und ein Visum zu beantragen. Allerdings bekommen die meisten Russinnen und Russen ein Schengen-Visum, kein nationales Visum eines EU-Staates. Das heißt: Sie dürfen nur 90 Tage in der EU bleiben und nicht arbeiten. Und das bedeutet: Jeder, der flieht, braucht Geld zum Leben in Deutschland.

Für Studentinnen wie Alexandra ist das nicht zu finanzieren. Das Auswärtige Amt teilt auf Nachfrage unserer Redaktion mit, dass an deutschen Auslandvertretungen mit rund 2100 Schengen-Visa rund 200 russische Staatsangehörige mehr eine Einreiseerlaubnis ausgestellt bekamen als im Februar. Der Krieg könne Ursache sein, aber auch die reduzierten Corona-Reiserestriktionen.

Es gibt Stiftungen und Stipendien, die jungen Russinnen und Russen helfen, eine Zeit in der EU zu verbringen, an einer Universität etwa. Doch junge Menschen wie Alexandra, aber auch die Lehrerin Anna berichten, dass viel Unsicherheit herrscht, welche Programme noch bestehen bleiben, wenn sich der Westen und Russland in einem Sanktionskrieg belagern. „Schon jetzt spüren wir, wie der ganze Uni-Betrieb eingefroren ist“, sagt Alexandra.

Und Menschenrechtsorganisationen wie Memorial beklagen, dass die Stipendien „bei weitem“ nicht den Bedarf abdecken für die Vielzahl der jungen Menschen, die raus wollen. Zudem würden oftmals „gefährdete Gruppen wie zivilgesellschaftliche Aktivisten und Journalisten“ bei den Förderprogrammen ausgespart. Ein IT-Techniker hat es leichter als ein putin-kritischer Künstler, das Land zu verlassen. Dabei ist letztere besonders unter Druck des Regimes.Wer länger als 90 Tage in Deutschland bleiben will, müsste Asyl beantragen. Aber auch das bedeutet: Während der Zeit des Verfahrens ist Arbeit nicht erlaubt. Und keine Arbeit bedeutet: kaum Geld.

Viele fliehen nach Armenien oder Georgien

Es sind vor allem junge, liberale Menschen, die frustriert und verängstigt in Russland leben. Viele andere, zeigen Umfragen, befürworten den Kurs der Putin-Regierung. Gerade abseits der Metropolen Moskau und St. Petersburg verfängt die einseitige Berichterstattung des Staatsfernsehens.

Wer aus Russland fliehen will, den zieht es jetzt vor allem in andere Länder abseits der EU: vor allem Armenien und Georgien. Dort gilt: kein Visum notwendig, arbeiten ist legal. Und: Viele sprechen noch Russisch. Georgien selbst ist auch deshalb offen für russische Dissidenten, weil das Land 2008 schon einen Krieg mit Putins Militär erleben musste. Es gibt keine verlässlichen Zahlen, aber Medien berichten Mitte März, knapp einen Monat nach Kriegsbeginn, von mittlerweile 75.000 Russen in Armenien. Nach Georgien sollen rund 30.000 ausgereist sein.

Beim Messengerdienst Telegram gibt es ganze Kanäle, die Ausreisen dorthin organisieren. Es sind auch digitale Foren geworden für Menschen, die Fragen haben und unsicher sind. Es gibt Chatgruppen über den „Umzug“ auch in die Türkei oder nach Kasachstan. Es gibt Informationen zu „Haustieren“ in Serbien und Griechenland, und für IT-Fachkräfte in Polen. Auch Israel ist ein Ziel für fliehende Russen. Wer Geld hat, geht nach Dubai. Zur Ausreise nach Deutschland findet sich in den Foren kaum etwas.

Nicht immer, auch das legen Medienberichte nahe, wird die Einreise etwa nach Georgien erlaubt. Und: Auch wenn arbeiten erlaubt ist, fehlen in den beiden Ländern oft Jobs. Gerade für Wissenschaftlerinnen, Künstler oder Journalisten – für alle, die besonders stark von Putins Repressionen betroffen sind. Viele hängen ohne Perspektive im Exil fest.

Visaverfahren sollen vereinfacht werden

Für andere sind Georgien und Armenien deshalb nur eine Station. So wie für Jegor Isaaev. Der russische Filmemacher lebt mittlerweile in Litauen, in der EU. Auch er flog erst nach Georgien. Von dort kümmerte Isaaev sich um ein Schengen-Visum. „Mein Anwalt riet mir, sofort auszureisen“, erzählt er am Telefon. Isaaev geriet ins Visier der Behörden, die gegen den Rektor seiner Hochschule ermittelten. Wegen angeblichen Betrugs, aber Fachleute wittern politische Motive hinter dem Vorgehen der Behörden. Und auf einmal bekam auch Isaaev eine Vorladung als Zeuge.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Isaaev, der selbst immer wieder für regierungskritische Medien arbeitet, traute den Behörden nicht. Und ging. Die letzte Nacht vor dem Abflug nach Georgien habe er nicht zuhause geschlafen. Aus Angst, der Geheimdienst könnte doch noch vorbeischauen. Jegor Isaaev kenne viele junge Menschen in Moskau, die auf Demonstrationen gegen die Kriegspolitik waren. Er selbst beteiligte sich an Protesten. Wer raus wolle, habe Angst zu einer Botschaft zu gehen. „Wenn du schon als ‚ausländischer Agent‘ eingestuft bist beim Geheimdienst, dann ist es hart für dich“, sagt er.

Die Bundesregierung will Menschen in Russland besser schützen, die sich gegen Putins Kriegstreiberei wenden und verfolgt werden. Nach Informationen unserer Redaktion wird darüber beraten, ob Visaverfahren vereinfacht werden. Oder: Ob Menschen erst einmal mit einem Schengen-Visum nach Deutschland einreisen können – um dann hier ein Visum für einen längeren Aufenthalt und eine Arbeitserlaubnis zu beantragen.

Die Chancen auf Asyl in Deutschland steigen

Schon geschehen: Visaverfahren für Fachkräfte und Spezialisten wurden beschleunigt, die in Russland bei einem deutschen oder international tätigen Unternehmen beschäftigt sind und in Deutschland für die Firma weiterarbeiten wollen – eine Regelung, die etwa für Kulturschaffende, Journalisten oder Bürgerrechtler erweitert werden könnte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat zudem bereits die internen Leitsätze für das „Herkunftsland“ Russland an die verschärfte Lage seit Kriegsausbruch angepasst. Das heißt auch hier: Die Chancen auf Asyl in Deutschland steigen.

Derzeit beraten vor allem die Staatssekretäre von Innenministerium und Auswärtiges Amt darüber, wie russischen Dissidenten besser geholfen werden kann. Der Druck auf die Regierung wächst, nicht nur den Blick auf die ukrainischen Flüchtlinge zu werfen. Die Organisation „Memorial“ fordert „humanitäre Visa“ und eine Arbeitserlaubnis für verfolgte Russen. Die FDP-Politiker Konstantin Kuhle und Johannes Vogel fordern eine Aufnahmeprogramm für russische Soldaten, die desertieren.

Die Journalistin Katya, sie würde aus Russland fliehen, bekäme sie in der EU Asyl und eine Erlaubnis zu arbeiten. „Auch wenn Russland für immer meine Heimat bleibt.“ Die Studentin Alexandra sagt, es sei ja nicht nu das Geld und der Mut, der ihr fehlten für eine Ausreise. Manchmal gehe ihr auch durch den Kopf, dass sie nach Deutschland, Litauen oder Polen fliehen könne – aber dann, sagt die junge Frau, nehme sie ja einem Flüchtling aus der Ukraine einen Platz weg. Und die bräuchten doch gerade noch viel dringender Schutz.