Berlin. Die Regierung bereitet sich auf einen möglichen Stopp der Gaslieferungen aus Russland vor. Was das für Industrie und Verbraucher heißt.

Noch ist der Ernstfall nicht eingetreten, doch im Wirtschaftsministerium wollen sie vorbereitet sein. Hinter den Kulissen arbeiten Wirtschaftsminister Robert Habeck und sein Team schon seit Wochen an einem Plan für den Fall, dass das russische Gas aufhören sollte zu fließen. Am Mittwochmorgen erklärte der Grünen-Politiker, dass sein Haus die Frühwarnstufe des Notfallplans Gas ausgerufen hat.

"Es gibt aktuell keine Versorgungsengpässe", betonte Habeck. Doch das könnte sich ändern. Denn Russland will Gas künftig nur noch gegen Rubel liefern – und den Westen so zwingen, die eigenen Sanktionen zu unterlaufen. Deutschland und seine Partner lehnen das ab. Am Mittwochabend hat Bundeskanzler Olaf Scholz mit Russlands Präsident Wladimir Putin telefoniert. Nach Angaben der Bundesregierung hat Putin zugesichert, dass europäische Unternehmen ihre Rechnungen für russisches Gas weiter in Euro begleichen können – auch wenn ab dem 1. April ein Gesetz gelte, wonach die Rechnung in Rubel zu begleichen sei.

Die Zahlungen sollen demnach weiterhin in Euro an die Gazprom-Bank überwiesen werden, die nicht von Sanktionen betroffen sei. "Die Bank konvertiere dann das Geld in Rubel", erklärte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Scholz habe diesem Verfahren jedoch nicht zugestimmt, sondern nur um schriftliche Informationen dazu gebeten. Der Gasstreit ist damit weiterhin nicht geklärt. Was würde ein sofortiger Lieferstopp für Europa bedeuten?

Gas: Was passiert, wenn Putin die Lieferung stoppt?

Aktuell befindet sich Deutschland in Stufe eins des Notfallsplans – das bedeutet, dass "konkrete, ernstzunehmende und zuverlässige Hinweise" darauf vorliegen, dass ein Ereignis eintreten kann, das wahrscheinlich zu einer erheblichen Verschlechterung der Gasversorgungslage führt. Stufe zwei, die "Alarmstufe", greift, wenn diese Verschlechterung eingetreten ist, der Markt den Ausfall aber noch ausgleichen kann. Erst wenn das nicht mehr funktioniert, gilt die dritte, die Notfallsstufe.

Dann greift der Staat ein und regelt, wer vorrangig mit Gas beliefert wird und wer nicht. So soll sichergestellt werden, dass "geschützte Kunden" – Privathaushalte, aber auch Krankenhäuser, Feuerwehr und Polizei – weiterhin Gas erhalten. Die Bundesnetzagentur entscheidet dann, welche Industriezweige nachrangig beliefert würden. Aktuell seien die deutschen Gasspeicher zu 25 Prozent gefüllt, sagte Habeck. Wie lange diese Vorräte reichen, hänge von verschiedenen Faktoren ab, unter anderem der Witterungslage.

Die Ampel-Koalition müsse deshalb schon jetzt an den nächsten Winter denken, sagt Andreas Jung, Vizechef der CDU. "Neben dem Oster- und dem Sommerpaket muss die Regierung jetzt auch sehr zeitnah ein Winterpaket vorlegen, ein umfassendes Vorsorgekonzept, wie wir auch ohne russische Energieimporte gut über den nächsten Winter kommen könnten."

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Gaslieferung: Wer wäre vom Stopp stark betroffen?

Betroffen sind alle Branchen, deren Gaslieferungen eingeschränkt werden. Die weitreichendsten Folgen hätten Einschränkungen für die Chemieindustrie, die Ausgangsstoffe für nahezu alle produzierenden Industrien liefert und am Anfang fast jeder Lieferkette steht – von der Autoindustrie, über Medizintechnik bis hin zur Verpackungsindustrie für Lebensmittel.

Eine Verknappung des Erdgases würde sich doppelt auf die Chemieproduktion auswirken: Es gäbe nicht mehr genügend Energie für die Produktionsprozesse, zum anderen würde Erdgas als Rohstoff für die Herstellung von Produkten fehlen.

Erdgas lässt sich laut BASF in der Chemieproduktion weder als Rohstoff noch als Energieträger kurzfristig ersetzen. Die Produktion vieler wichtiger Stoffe des täglichen Bedarfs müssten eingeschränkt werden. „Bei deutlicher Einschränkung oder Einstellung der Produktion ist mit erheblichen Auswirkungen auf die Grundversorgung der Bevölkerung nicht nur in Deutschland und damit auf das Gemeinwesen zu rechnen“, berichtet BASF unserer Redaktion.

Gas ist Ausgangsstoff für viele Produkte – Knappheit droht

Gas dient beispielsweise auch als Grundstoff für Ammoniak und Acetylen. Ammoniak wird unter anderem zur Herstellung von Düngemitteln verwendet. Sinkt die Produktion, führt dies zu geringeren Ernteerträgen und weiter steigenden Lebensmittelpreisen. Acetylen ist Ausgangsstoff für Kunststoffe oder Arzneimittel. Wird weniger davon produziert, sind laut BASF die Automobil-, Pharma-, Bau- und Textilindustrie betroffen.

Scherwiegende Engpässe bei der Gasversorgung von BASF würden zur Unterbrechung von Wertschöpfungsketten führen. "Nahezu alle Branchen wie beispielsweise Landwirtschaft, Ernährung, Automobil, Kosmetik/Hygiene, Bauwesen, Verpackung (Lebensmittelvertrieb), Pharma, Elektronik wären dann betroffen", so BASF. Lesen Sie auch: Weizenmehl ist Mangelware: Hier können Sie es noch kaufen

Gas-Engpass: Was heißt das für Verbraucherinnen und Verbraucher?

Im Gegensatz zu Unternehmen genießen private Haushalte im Falle von Versorgungsengpässen einen besonderen Schutz. Sie zählen zu sogenannten "geschützten Kunden". Den Verbraucherinnen und Verbrauchern wird im Zweifel das Gas zuletzt abgestellt – ebenso wie Krankenhäusern und sozialen Diensten. Lesen Sie dazu: Gas-Engpässe: Mit diesen Tipps können Sie im Alltag sparen

Allerdings ist nicht auszuschließen, dass sich der Preisanstieg bei Erdgas und in Folge auch Heizöl, Benzin, Diesel und Strom, aber auch weiteren Konsumgütern, weiter deutlich verschärfen wird. Schon im März ist die Inflation – angetrieben von hohen Energiekosten - erstmals seit 40 Jahren auf 7,3 Prozent gestiegen. Die Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) fordert die Bundesregierung deshalb auf, im Fall eines Energiestopps "ein drittes Entlastungspaket aufzulegen, damit Verbraucherinnen und Verbraucher die Zusatzkosten schultern können".

Wie viel Gas verbraucht Deutschland – wieviel die privaten Haushalte?

Der Anteil russischen Erdgases an allen Erdgaseinfuhren nach Deutschland lag im ersten Quartal dieses Jahres bei geschätzt 40 Prozent nach vorher rund 55 Prozent, berichtet der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Die fehlenden Mengen wurden zwischen Januar und März durch Lieferungen aus den Niederlanden und Norwegen ausgeglichen. Insgesamt ließen sich laut BDEW kurzfristig 19 Prozent des deutschen Gasbedarfs substituieren oder einsparen.

Haushaltskunden verbrauchen knapp die Hälfte des Gasbedarfs in Deutschland. 2021 verbrauchten die Haushalte rund 310 Milliarden Kilowattstunden (kWh) Erdgas – davon entfielen 80 Prozent auf die Raumwärme und Warmwasserbereitung. Hier liegen enorme Einsparpotenziale, die durch ein verändertes – also sparsameres – Nutzungsverhalten erzielt werden könnten. Zudem werden aktuell rund 83.000 Erdgas-Autos genutzt sowie erdgasbetriebene Busse. Das Einsparpotenzial bei diesen Fahrzeugen beziffert der BDEW jedoch nur auf rund 2 Milliarden kWh – es wäre damit sehr gering.

Russisches Gas: Kann die Menge ersetzt werden?

Wie der Verband der Energiewirtschaft BDEW berichtet, kamen 40 Prozent des bundesweit von Januar bis März verbrauchten Erdgases aus Russland. Dem Verband zufolge könnte in Zukunft etwa die Hälfte der russischen Lieferungen ersetzt oder eingespart werden, allerdings nicht kurzfristig.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) strebt das Ziel an, bis 2024 von russischem Gas unabhängig zu werden. Allerdings müssten für die Umsetzung des Vorhabens neue Liefervereinbarungen getroffen werden.

Was befürchten Wirtschaft und Gewerkschaften?

Die deutsche Wirtschaft warnt vor extremen wirtschaftlichen Folgen eines Gasstopps. "Bei einem Lieferstopp wären in den Folgemonaten in erster Linie viele Unternehmen von Abschaltungen betroffen", sagte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Peter Adrian.

Alle Wertschöpfungsketten wären negativ beeinflusst. Adrian erwartet, dass neben den Gaspreisen auch die Strompreise explodieren würden. Somit wären auch Unternehmen getroffen, die kein oder wenig Gas einsetzen. Der Bund der Deutschen Industrie (BDI) befürchtet "existenzielle Schwierigkeiten". Schon jetzt seien einige energieintensive Unternehmen gezwungen, ihre Produktion wegen hoher Energiekosten zu drosseln.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) befürchtet schwere Schäden für die deutsche und europäische Wirtschaft. "Ein möglicher Lieferstopp hätte gravierende Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die Wirtschaftsstruktur", sagte der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann dieser Redaktion. "Es drohen irreparable Schäden an den industriellen Wertschöpfungsketten und ein sprunghafter Anstieg der Arbeitslosigkeit." Eine derartige Rezession könne den gesamten europäischen Wirtschaftsraum schwer schädigen.

Dieser Artikel erschien zuerst bei waz.de.