Berlin. Der ehemalige russische Oligarch Michail Chodorkowski über die “Mission“ des Kremls-Chefs und wie der Westen nun reagieren sollte.

Anfang der 2000er-Jahre galt er als der reichste Mann Russlands: der ehemalige Ölmanager Michail Chodorkowski. 2003 zerstritt er sich mit Präsident Wladimir Putin - und saß danach zehn Jahre im Gefängnis. Zum Interview in Berlin erscheint Chodorkowski leger: dunkelblaues Jackett, Jeanshemd, rotgemusterte Krawatte. Die Warnung vor Putins Kurs könnte deutlicher nicht sein.

Herr Chodorkowski, Sie sind einer der wenigen Menschen, die Wladimir Putin gut kennen. Wie würden Sie ihn beschreiben?

Michail Chodorkowski: Ich bin seit 20 Jahren im Krieg mit Putin. Deshalb beobachte ich ihn sehr genau. Die präziseste Beschreibung für ihn wäre: Er ist vom Typ her wie ein Mafia-Boss, ein Don Corleone wie in Francis Ford Coppolas Film-Trilogie „Der Pate“. Er packt die Leute am Kragen und fragt sie: Was, wenn ich dir einfach die Nase breche? Die Führer des Westes müssen ihm knallhart gegenübertreten. Putin muss verstehen, dass auch ihm die Nase gebrochen werden kann. Erst dann machen Gespräche mit ihm Sinn.

Saß zehn Jahre im Gefängnis: Michail Chodorkowski galt einst als der reichste Mann Russlands. Bis er sich 2003 mit Wladimir Putin zerstritt.
Saß zehn Jahre im Gefängnis: Michail Chodorkowski galt einst als der reichste Mann Russlands. Bis er sich 2003 mit Wladimir Putin zerstritt. © dpa | Bernd von Jutrczenka

Ist Putin ein rationaler Stratege, ein Spieler – oder ist er „völlig verrückt“, wie es der britische Verteidigungsminister Ben Wallace ausgedrückt hat?

Chodorkowski: Putin ist weder verrückt, noch ist er ein Selbstmörder. Dass er aber in seiner eigenen Anschauung eine Art Messias ist, dem Gott eine wichtige Mission aufgetragen hat, spricht nicht für seine geistige Gesundheit. Im Laufe der Jahre ist er paranoid geworden, er leidet unter starkem Verfolgungswahn.

Welchen Plan hat er?

Chodorkowski: Seine Pläne haben sich geändert. In der ersten Phase seiner Entwicklung ging es ihm nur um möglichst viel Geld. Putin war der Meinung, je mehr Geld jemand hat, desto wichtiger ist er. In der zweiten Phase – um das Jahr 2007 herum – kam er zu dem Schluss, dass Geld allein nicht reicht. Es bedarf der inneren Ruhe, um es zu nutzen. Deshalb ging er dazu über, sich auf der Basis von gestohlenem Geld Luxusgüter zuzulegen wie etwa einen Palast am Schwarzen Meer.

Die zweite Phase endete nach den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi. Damals erkannte Putin, dass er kein ruhiges und ehrenvolles Leben haben werde. In der dritten Phase sieht Putin für sich eine Mission, die er erfüllen muss.

Und wie lautet diese Mission?

Chodorkowski: Es geht Putin de facto um die Wiederherstellung der Sowjetunion. Ob ein neues Großrussisches Reich nur Belarus und die Ukraine umfasst oder auch die baltischen Staaten, Polen und Finnland, ist schwer zu sagen. Ich glaube, das weiß Putin im Moment selber noch nicht.

Im Westen herrscht die Sorge, dass Putin Atomwaffen einsetzen könnte. Glauben Sie, dass er das ernsthaft erwägt?

Chodorkowski: Putin ist in seiner Handlungsweise sehr traditionell. Man kann beobachten: Jedes Mal, wenn seine Zustimmungswerte in der Bevölkerung sinken, beginnt er einen Krieg. Aber bevor er etwas tut, testet er verbal seine Grenzen aus. Indem Putin Russlands nukleare Streitkräfte kürzlich in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt hat, lotet er seine Optionen bezüglich eines Angriffs auf die Nato aus.

Vor genau 20 Jahren im Kreml: Präsident Putin bei einem Treffen am 14. März 2002 mit Chodorkowski, damals Chef des Ölkonzerns Yukos.
Vor genau 20 Jahren im Kreml: Präsident Putin bei einem Treffen am 14. März 2002 mit Chodorkowski, damals Chef des Ölkonzerns Yukos. © action press | United Archives GmbH

Sie meinen, im Zweifelsfall greift er zu Kernwaffen?

Chodorkowski: Er wird es dann tun, wenn er entweder sein persönliches Leben in Gefahr sieht oder wenn er merkt, dass er Atomwaffen ungestraft einsetzen kann. Die westlichen Staats- und Regierungschefs geben Putin derzeit praktisch einen Freifahrtschein, weil sie ihm nicht deutlich genug Grenzen setzen.

Die westlichen Spitzenpolitiker machen einen Fehler, wenn sie sagen, die Nato wird nicht zur Kriegspartei?

Chodorkowski: Natürlich. In der Übersetzung von Putin bedeutet dies: Der Westen ist schwach, er hat Angst vor mir. Ich kann machen, was ich will.

Was sollte der Westen, was sollte die Nato tun?

Chodorkowski: Die Nato sollte eine Flugverbotszone über der gesamten Ukraine einrichten. Würde der Luftraum nur über einem Teil der Ukraine abgeriegelt, wäre dies eine indirekte Aufteilung des Landes. Putin würde dies als Einladung verstehen, mit seiner Aggression weiterzumachen. Der Westen muss Putin mit fester Haltung gegenübertreten und ihm ganz klar signalisieren: Wir haben keine Angst vor dir. Wir erlauben dir nicht, in Europa Krieg zu führen.

Sind Sie dafür, dass der Westen auch Offensivwaffen wie Kampfflugzeuge und Panzer an die Ukraine liefert?

Chodorkowski: Ohne die Lieferung von Waffen kann die Ukraine ihren Widerstand gegen Russland nicht aufrechterhalten. Die Waffen können jedoch nur ankommen, wenn es eine Flugverbotszone gibt.

Selenskyj fordert in emotionaler Rede vor US-Kongress Flugverbotszone über Ukraine
Selenskyj fordert in emotionaler Rede vor US-Kongress Flugverbotszone über Ukraine

Der Westen hat schwere Sanktionen gegen Russland verhängt. Reicht das?

Chodorkowski: Wenn wir darüber reden, dass die russische Bevölkerung durch diese Sanktionen die Härte des Krieges verstehen und die Notwendigkeit des Krieges hinterfragen soll, dann werden die derzeitigen Sanktionen ihren Zweck erfüllen. Aber das wird sechs bis zwölf Monate dauern. Die Strafmaßnahmen werden den Krieg jedoch nicht beenden, weil sie zu spät aufgelegt wurden.

Plädieren Sie dafür, dass der Westen alle Importe von Öl, Gas und Kohle aus Russland stoppen und sämtliche Banken vom Zahlungssystem Swift abkoppeln soll?

Chodorkowski: Langfristig betrachtet bin ich mir nicht sicher, ob der Westen willens ist, den Import russischer Energie total zu kappen. Ich glaube, dass der Ausschluss von Swift überhaupt nichts bringt. Man kann an den Banken weiter Cash abheben und Überweisungen tätigen. Die Finanzinstitute müssen nur etwas höhere Gebühren bezahlen. Was kurzfristig viel mehr wirkt, ist das Einfrieren der Konten russischer Banken sowie der Konten von Putin und seinen reichen Unterstützern.

Sehen Sie einen Punkt, an dem sich das Militär Putin in den Weg stellen könnte?

Chodorkowski: Wenn Putin den Krieg in der Ukraine verliert, wird er Probleme mit der Armee bekommen.

Ist ein Putsch denkbar?

Chodorkowski: Alles ist möglich. In der russischen Geschichte hat jeder verlorene Krieg dem jeweiligen Diktator große Probleme bereitet.

Wie lange wird Putin noch an der Macht sein?

Chodorkowski: Wenn er weiterhin Kriege gewinnen kann, könnte er sich durchaus für weitere zehn Jahre an der Macht halten. Deshalb muss der Westen alles tun, damit Putin in der Ukraine scheitert.

Die Polizei nimmt eine Demonstrantin während einer Protest-Aktion gegen Russlands Invasion in die Ukraine fest (Archivbild vom 27. Februar).
Die Polizei nimmt eine Demonstrantin während einer Protest-Aktion gegen Russlands Invasion in die Ukraine fest (Archivbild vom 27. Februar). © dpa

Wenn Sie Bundeskanzler Olaf Scholz einen Rat geben müssten: Wie würde der aussehen?

Chodorkowski: In Russland gibt es ein Sprichwort, das besagt: Diejenigen, die geköpft werden, werden nicht ihrem Haar nachtrauern. Auch der Kanzler muss gegenüber dem Kremlchef Stärke demonstrieren. In Putins Vorstellung befindet sich sein Land bereits im Krieg mit der Nato, mit Amerika, mit Deutschland. Jedes Zeigen von Schwäche wird von Putin nicht als Suche nach einen Kompromiss interpretiert, sondern als Anreiz für weitere Eskalationen.

In welcher Weise wird der Beginn von Russlands Ukraine-Invasion am 24. Februar die Welt verändern?

Chodorkowski: Das Datum markiert den Beginn eines offenen Kriegs zwischen der Welt der Diktatur und der Welt der Demokratie. Das ist zuallererst eine Herausforderung für die USA als Führungsmacht des Westens. Auf dem Erdball gibt es viele kleine Diktatoren, viele kleine Putins. Diese beobachten derzeit sehr genau, was passiert.

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Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.