Berlin . Schwere Vorwürfe: Die Ukraine behauptet, dass Bürger aus der belagerten Stadt Mariupol nach Russland verschleppt werden. Stimmt das?

Jeden Tag fliehen Menschen aus Mariupol. Meist schlagen sie sich Richtung Westen durch. Einige Fluchtkorridore zwischen den russischen Angreifern und den ukrainischen Stellungen sind offen. Andere zieht es Richtung Norden in die Ost-Ukraine oder weiter in den Osten: nach Russland. Die Ukrainer behaupten, sie würden verschleppt und deportiert.

Dafür gibt es keinen Beleg, weder von unabhängigen Organisationen noch aus Geheimdienstkreisen. Der Vorwurf wird von keinem westlichen Staat erhoben. Ist an den Gerüchten dennoch was dran? Ein Faktencheck.

Mariupol ist die letzte große Hafenstadt am Asowschen Meer unter ukrainischer Kontrolle. Warum um sie erbittert gekämpft wird, erklärt sich aus der Geografie.

Wenn es für den russischen Präsidenten Wladimir Putin ein Minimalziel im Ukraine-Krieg gibt, dann wäre es wohl die Schaffung einer Landbrücke bis zur Halbinsel Krim, die er 2014 erobert hat. Dann wären die Versorgungsprobleme auf der Krim, vor allem mit Trinkwasser, gelöst; und dann wäre das Asowsche Meer ein russischer Binnensee.

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Die Ukraine wies alle Ultimaten zurück. Die Hafenstadt ist zum Symbol des Widerstands geworden. Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk sagte, "es wird keine Kapitulation, kein Niederlegen der Waffen geben". Militärisch ergibt die Entscheidung Sinn. So lange sie in Mariupol gebunden sind, stockt der weitere Aufmarsch der russischen Truppen.

Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk:
Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk: "Es wird keine Kapitulation, kein Niederlegen der Waffen geben"

Flucht zu den Russen: Ein "No go"?

Die russischen Streitkräfte sind vor allem eine Landarmee und als solche etwas schwerfällig. Wenn sie nach Lehrbuch vorgehen, werden Städte umgangen und eingekesselt. Kapitulieren sie nicht, kommt der Häuserkampf. Es droht unermessliches Leid für die Zivilbevölkerung.

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Seit Wochen steht Mariupol unter Beschuss. Die Zerstörung ist schon jetzt groß, Hilfsgüter kommen kaum durch, größtenteils ist die Stadt von Strom und Telefonnetz abgeschnitten. Ihre Bewohner sind wie gefangen und haben drei Möglichkeiten: Ausharren, über einen Fluchtkorridor in den Westen ziehen; mit dem Risiko, dass der Krieg sie dort später wieder einholt. Oder in den Osten flüchten.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Nach Angaben Wereschtschuks sind von den ursprünglichen 400.000 Einwohnern noch rund 100.000 in der Stadt. 45.000 Menschen seien in die Ukraine geflohen. Die Russen erklärten, es stünden "bequeme Busse" bereit, um Geflüchtete zu transportieren. Ihre Pässe müssen sie abgeben, ihre Handys werden durchsucht. Dann werden sie in den Osten gebracht. Da seien sie sicherer. Denn nördlich von Mariupol wird weiter gekämpft.

Verschleppt aus Mariupol: Eine Frage der Lesart

In den Osten zu ziehen, ist eine Risikoabwägung – und nicht mal unplausibel, weil es über Grenzen hinweg verwandtschaftliche Beziehungen gibt. Ob die Menschen immer wissen, wohin sie gebracht werden? Nicht in den Donbass, sondern direkt nach Russland? Ob sie in ihrer Not eine echte Wahl haben? Und ob sie nach Kriegsende die Chance zur Rückkehr bekommen? Bei allen Fragen sind Zweifel angebracht.

Aus ukrainischer Sicht ist die Flucht zu den Russen, buchstäblich wie bildlich, ein "No go". Der Stadtrat und der Bürgermeister von Mariupol, Wadym Boitschenko, warf Russland vor, ukrainische Bürger unter dem Deckmantel der Evakuierung zu verschleppen.

Verschleppt: Schwer zu beweisen – oder zu widerlegen

Boitschenkos Berater Petro Andruschenko postete auf Facebook, die Russen hätten ukrainische Staatsbürger nach "Russland abgeschoben". Wereschtschuk behauptete gegenüber der ukrainischen Zeitung "Ukrainska Pravda", dass Dutzende Kinder aus Waisenhäusern nach Russland "entführt" worden seien. Auch das Unternehmen SCM berichtete, dass Soldaten Busse gestoppt und Richtung Russland umgeleitet haben, gegen den Willen der Menschen.

Umgekehrt wurden ihre Häuser nach russischer Lesart von den Ukrainern bombardiert; und die Menschen zu ihrem Schutz "evakuiert". Die Fakten lassen sich nicht überprüfen – ihre Interpretation ist Teil des Kampfes um die öffentliche Meinung.

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de.