Berlin. Russlands Präsident Putin verschärft die Angriffe. US-Präsident Biden warnt Moskau vor dem Einsatz biologischer und chemischer Waffen.

Raketenhagel auf Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen und Wohnblöcke. Menschen, die in Kellern kauern – ohne Strom, ohne Nahrung, ohne Wasser. Die ukrainische Stadt Mariupol am Schwarzen Meer gleicht dieser Tage einer Todeszone. Häusergerippe, Trümmerhaufen, provisorische Gräber auf Grünstreifen neben der Straße. Wie die tschetschenische Hauptstadt Grosny Anfang der 2000er-Jahre oder die syrische Metropole Aleppo 2016: Mariupol bietet ein Bild apokalyptischer Zerstörung.

Im Westen fragen sich viele: Was will der russische Präsident Wladimir Putin? Wie weit geht er noch? „Es ist schwer zu verstehen, welchen Plan Putin verfolgt, wenn er alles verwüstet wie in Mariupol“, sagt der Botschafter eines westlichen Landes.

Immer brutalere Waffen, mehr zivile Opfer: Putin glaubt an seinen Sieg

Viele Militärexperten zwischen Washington und Berlin sind sich einig: Der Präsident Russlands hat sich mit der Vorstellung von einem Blitzkrieg-Sieg kräftig verkalkuliert. Der Widerstand der ukrainischen Bevölkerung und die Schlagkraft der ukrainischen Armee wurden im Kreml völlig falsch eingeschätzt.

„Putin ist frustriert und wütend. Trotzdem denkt er, er kann den Krieg noch gewinnen – durch den Einsatz noch brutalerer Waffen, durch noch höhere Zahlen ziviler Opfer“, sagt der Chef eines westlichen Geheimdienstes.

Total ausgebombt: Vor zwei Jahren wurde in Kiew das Einkaufszentrum Retroville eröffnet, nun liegt es in Trümmern.
Total ausgebombt: Vor zwei Jahren wurde in Kiew das Einkaufszentrum Retroville eröffnet, nun liegt es in Trümmern. © AFP | FADEL SENNA

Experte: Putin verfolgt die Vision von einem „großrussischen Reich“

Nach Ansicht des Russlandexperten Gustav Gressel von der Berliner Denkfabrik European Council on Foreign Relations hält Putin an seiner Strategie fest. „Er will die Ukraine unterwerfen, den Willen der Bevölkerung brechen und aus dem Land einen Vasallenstaat machen“, sagte Gressel unserer Redaktion.

„Er hat das Ziel, die Ukraine von allen Elementen zu säubern, die er für seine Vision von einem großrussischen Reich nicht brauchen kann. Am Ende will er diesen Teil der Bevölkerung durch russische Siedler ersetzen.“

US-Präsident Joe Biden warnt vor biologischen und chemischen Waffen

Nach Einschätzung von US-Präsident Joe Biden ist für Putin auch der Einsatz von chemischen oder biologischen Waffen kein Tabu. Die Russen würden „behaupten, dass die Ukraine biologische und chemische Waffen“ hat, erklärte Biden. Das sei „ein klares Zeichen“ dafür, dass Putin „den Einsatz beider Waffen in Erwägung zieht“. Der Amerikaner warnte den Kremlchef für diesen Fall vor einer „starken“ Reaktion der Nato.

Die USA, die Ukraine und Russland beschuldigen sich seit Wochen gegenseitig, Massenvernichtungswaffen einsetzen zu wollen. Der Verdacht des Westens ist, dass Russland durch die ständige Wiederholung des Vorwurfs einen weiteren Vorwand für den Krieg schaffen will.

Ukraine: Könnte Putin auch taktische Kernwaffen einsetzen?

Fachleute wie Gustav Gressel rechnen nicht damit, dass Russland zu biologischen Waffen greift. „Aber der Einsatz chemischer Waffen ist sehr wohl denkbar“, so Gressel. „Dies gilt insbesondere für primitive chemische Waffen, bei denen es schwierig ist, den Einsatz nachzuweisen. Moskau wird dann wohl versuchen, den Einsatz den Ukrainern in die Schuhe zu schieben. Ähnlich ist Russland in Syrien vorgegangen.“ Lesen Sie auch: Ukraine: Rekrutiert Putin Terrorkämpfer für den Häuserkampf?

Sicherheitsexperten schließen auch die nukleare Option nicht aus. Insbesondere, was den Einsatz kleinerer, taktischer Kernwaffen mit begrenzter Wirkung angeht. Putin hat vor Kurzem seine atomaren Streitkräfte in die zweite von vier Bereitschaftsstufen versetzt.

Was passiert, wenn sich Putin in die Ecke gedrängt fühlt?

Viele westliche Militärexperten halten den Einsatz russischer Atombomben zwar für unwahrscheinlich, aber nicht für undenkbar. Dies gilt vor allem für den Fall, dass sich der russische Präsident in die Ecke gedrängt sieht. Moskau werde sich „zunehmend auf seine nukleare Abschreckung verlassen, um dem Westen Stärke zu signalisieren und widerzuspiegeln“, warnt der Direktor des amerikanischen Militärgeheimdienstes Defense Intelligence Agency, Scott Berrier.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas kommt zu einem differenzierten Urteil. „Putin spielt auf der Klaviatur unserer Angst. Er versteht genau, vor was sich unsere Gesellschaften fürchten“, sagte sie unserer Redaktion. Andererseits: „Ich würde nicht ausschließen, dass der Kremlchef unter Umständen auch eine nukleare Option ziehen könnte.“

Kreml will Atomwaffen nur bei einer „existenziellen Bedrohung“ einsetzen

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte allerdings am Dienstag im US-Fernsehsender CNN International, Russland werde Atomwaffen nur im Fall einer „existenziellen Bedrohung“ einsetzen.

Wie gefährlich wird Putins Strategie noch?
Wie gefährlich wird Putins Strategie noch? © AFP | Mikhail Klimentyev

Russlands Vormarsch scheint zu stocken

Die Befürchtung einer Zunahme der Brutalität des Krieges wird auch dadurch genährt, dass der russische Vormarsch zu stocken scheint. Kleinere Städte wie Tschernihiw und Sumy im Norden und Mariupol sind umschlossen und werden weiter teils heftig beschossen. Russische Luftangriffe nahmen in den vergangenen Tagen zu. Das US-Verteidigungsministerium sprach zuletzt von 300 Lufteinsätzen innerhalb von 24 Stunden.

Den Belagerungsring um Kiew konnten die russischen Angreifer weiterhin nicht schließen. Nach ukrainischen Angaben haben sie begonnen, ihre Stellungen um die Hauptstadt für den Fall von Gegenangriffen zu befestigen, erstmals auch mit Minen. Dem Versuch, entlang der Schwarzmeerküste zur Metropole Odessa vorzudringen, steht weiterhin die Stadt Mykolajiw im Weg. Sie ist noch nicht gänzlich von russischen Truppen eingeschlossen.

Russland setzt auf „Wunderwaffen“ wie Hyperschall-Raketen

Moskau setzt derweil auf „Wunderwaffen“, die das Kriegsgeschehen zu seinen Gunsten wenden sollen. Das russische Verteidigungsministerium behauptete, durch den Einsatz der Hyperschall-Rakete „Kinschal“ („Dolch“) in der Westukraine ein unterirdisches Militärdepot zerstört zu haben. Dazu gab es allerdings nur Archivbilder. Die Waffe soll mit zehnfacher Schallgeschwindigkeit fliegen und ist von der gegnerischen Flugabwehr kaum auszuschalten, da sie ihre Flugbahn ändern kann.

Was russische Kräfte in der Ukraine bereits abgefeuert haben, sind thermobarische Waffen. Hierbei handelt es sich um Druckluft- oder Aerosolbomben, bei denen ein explosiver Treibstoff in der Luft versprüht und gezündet wird. In Fachkreisen wird die Waffe „Putins Höllensonne“ genannt. Lesen Sie mehr:Ukraine: Wie die ständige Todesangst die Kinder belastet

Die russischen Angreifer feuern thermobarische Bomben ab

Nach Ansicht westlicher Militär-Spezialisten schossen russische Einheiten in Mariupol TOS-1-Raketen von einem Panzerfahrgestell ab. Auch am Dienstagabend schlugen in Mariupol nach Angaben der Stadtverwaltung zwei „extrem starke Bomben“ ein. Ob es sich ebenfalls um thermobarische Bomben handelte, blieb zunächst unklar.

Ukrainische Städte leisten weiter erbitterten Widerstand

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    In Charkiw wurden thermobarische Bomben auch von Kampfflugzeugen abgeworfen. „Diese Waffen haben fast die Wirkung von kleinen Atombomben. Die Druckwelle ist so heftig, dass man auch in Kellern oder Schutzräumen kaum eine Chance hat zu überleben“, unterstreicht Gustav Gressel.

    Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Gelegentlich aufschimmernden Signalen von Fortschritten bei Gesprächen zwischen Moskau und Kiew wird in westlichen Geheimdienstkreisen keine große Bedeutung beigemessen. „Putin sieht sich unter dem Zwang, weiterkämpfen zu müssen“, betont der Chef eines Nachrichtendienstes. „Für uns ist es extrem wichtig, dass er in der Ukraine scheitert.“