Berlin . Wo stehen die Ukraine und Russland im Krieg? Experten erwarten kein baldiges Ende und haben eine unheimliche Sorge. Das Lagebild.

Der Ukraine-Krieg geht in die vierte Woche. Den ukrainischen Soldaten gelingt es immer wieder, Nadelstiche zu setzen, zuletzt mit einem Angriff auf den Flugplatz Cherson im Süden. Dort haben sie nach eigenen Angaben mehrere russische Hubschrauber zerstört.

Beide Kriegsparteien führen Verhandlungen. Geht es wirklich um einen Waffenstillstand? Zeitgewinn könnte der Grund sein, warum Russland sich auf Gespräche einließ. Seine Truppen bauen ihre Operationbasen aus und sichern den Nachschub. Das deutet auf eine Fortsetzung des Krieges hin.

"Die russischen Truppen bauen gerade eine Pipeline von Belarus nach Kiew", erzählt der Militärexperte Severin Pleyer unserer Redaktion. Für eine Landarmee ist die problemlose Versorgung mit Treibstoff wichtig. Das ist ein Hinweis darauf, dass der Sturm auf Kiew akribisch vorbereitet wird.

Mariupol ist ein böses Vorzeichen

"Wir sollten uns auf einen längeren Zeitraum einrichten", mahnt der Wissenschaftler vom German Institute for Defense and Strategic Studies (GIDS), einer Denkfabrik der Führungsakademie der Bundeswehr und der Helmut-Schmidt-Universität. Das ist für die Ukraine nicht die einzige schlechte Nachricht:

  • Die Russen verlegen Kräfte und Material in den Westen.
  • An der Front im Osten besteht für die Ukraine die Gefahr, "dass Verbände eingeschlossen werden", so Pleyer, weil die russischen Soldaten von drei Seiten angreifen, vom Norden, Osten und Südosten.
  • Die Belagerung von Mariupol hält an. Die Artillerie kommt immer brutaler zum Einsatz. Mehrfach-Raketenwerfer des Typs BM-30 "Smerch" können mit einer Salve eine Fläche von vier mal vier Kilometern beharken.

Die Taktik ist grausam. Es geht darum, die Widerstandskraft der Verteidiger zu brechen. Mit Blick auf Kiew sagt Pleyer, "Mariupol ist ein böses Vorzeichen". Mit der Einkesselung der Hauptstadt rechnet er nicht vor Ende nächster Woche. Es gibt zwei Szenarien.

Szenario Nummer eins: Massive Zerstörung

Erst anhaltender massiver Beschuss, dann der Einmarsch. Dagegen spricht, dass Kiew "einen besonderen Platz in der russischen Geschichtsschreibung hat", so Pleyer. Gerade diese Stadt "dem Erdboden gleichzumachen", wäre für Russlands Präsident Wladimir Putin daheim schwer vermittelbar.

Szenario Nummer zwei: Urbane Kriegsführung

Die Russen marschieren in die Stadt ein. "Da wird es schwierig", sagt Pleyer. Laut dem US-Experten für urbane Kriegsführung, John Spencer, ist der Verteidiger stets im Vorteil. Das Kräfteverhältnis zugunsten des Angreifers müsste nicht 3 zu1 sein, sondern 6 zu1 oder gar 12 zu 1. In jedem Fall drohen hohe Verluste.

Krieg: Fällt Kiew, fällt die Ukraine?

Die russische Führung ist fixiert auf einen "Enthauptungsschlag": Fällt Kiew, bricht der Widerstand in sich zusammen. Pleyer glaubt, dass es sich als Trugschluss erweisen könnte. Präsident Wolodymir Selenskyj habe es geschafft, "die Leute zu motivieren und zu inspirieren, auch ohne ihn weiter zu kämpfen".

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Die Verluste der Russen sind enorm. Laut "New York Times" ist die Zahl der mehr als 7000 getöteten russischen Soldaten eine vorsichtige Schätzung. Die Ukrainer gehen von 13.500 Toten aus. Und auf jeden getöteten Soldaten kommen schnell drei, vier verletzte Soldaten.

In Open-Source-Quellen geht man von Verlusten von bis zu 600 russischen Kampfpanzern aus. Der Materialaufwand wird zunehmen, auch die Abnutzungserscheinungen – die Anforderungen an die Logistik werden größer.

Wenn die Ukraine ihrem Gegner einen Abnutzungskrieg aufzwingt, eine Niederlage aber für Putin inakzeptabel ist, "müssen" die Russen nach der militärischen Logik weiter machen. Darin liegt nach Pleyers Analyse eine Gefahr.

Unheimliche Bedrohung: Nukleare Granaten

Derzeit führen die Russen Dual-Use-Systeme nach: Artilleriesysteme, die auch chemische oder nukleare Granaten verschießen können. Das ist der Typ 2S7M. Die sogenannten „Malka“-Geschütze wurden 2021 wieder in den Dienst gestellt und werden gerade ins Kriegsgebiet verlegt.

In einem Faktenckeck des GIDS warnt Pleyer insbesondere für den Fall einer Niederlage vor Kiew, dass dann nukleare Gefechtsfeldwaffen zum Einsatz kommen. Eine unheimliche Perspektive.

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de