Berlin . Vor dem Bundestag präsentierte Wolodymyr Selenskyj ganz klare Vorstellungen davon, wie Deutschlands Rolle in der EU aussehen sollte.

Die Luftlinie zwischen Kiew und Berlin beträgt 1205 Kilometer. Zwischen beiden Städten liegen zwei Welten – die des Krieges und die des Friedens. Am Donnerstagmorgen berühren sich diese Welten für 15 Minuten. Der ukrainische Präsident Wolodymir Selenskyj ist per Video dem Bundestag zugeschaltet. Der Auftritt beginnt mit Verzögerung, weil in der Nähe des Präsidialgebäudes, in dem Selenskyj sitzt, eine russische Rakete eingeschlagen ist.

Selenskyj trägt ein olivfarbenes Hemd. Links steht die blau-gelbe Nationalflagge. Ein schlichtes Ambiente, das zu seinen ernsten Worten passt. „Eine Mauer verläuft mitten durch Europa – eine Mauer zwischen Freiheit und Unfreiheit“, sagt er. Der Präsident beschreibt den Krieg als epische Schlacht zwischen Freiheit und Unfreiheit, Demokratie und Autokratie. In seinem Land würden an vorderster Front die westlichen Werte verteidigt.

Immer wieder verwendet Selenskyj das Bild der „Mauer“ und spielt damit auf die Zeit an, in der Deutschland geteilt war. Die Jahre, in der Sowjettruppen die DDR besetzt hatten und sich die Bundesrepublik durch die russische Atommacht bedroht fühlte. Selenskyj klagt an – und er kritisiert die Politik der Bundesregierung, die zu lange nur an die guten wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland gedacht habe, zum Beispiel bei der Erdgas-Pipeline Nord Stream 2. „Wir haben uns an euch gewandt und gesagt: Nord Stream ist die Vorbereitung zum Krieg. In Deutschland haben wir nur gehört: Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft.“

Selenskyj im deutschen Bundestag: In Europa wird ein Volk vernichtet

Auch bei den Sanktionen gegen Russland habe die Bundesregierung zu lange gezögert, betont der Präsident. Die Vorstöße der Ukraine, der Nato und der EU beizutreten, seien wiederholt ausgebremst worden, klagt Selenskyj. Und noch ein historischer Vergleich: In seinem Land sei es nicht möglich, eine humanitäre Versorgung aus der Luft wie bei der Berliner Luftbrücke 1948/49 zu errichten, sagt Selenskyj.

„In der Ukraine wird keine Luftbrücke aufgebaut. Von unserem Himmel fallen nur Bomben.“ Ein versteckter Vorwurf an die Nato, die eine Flugverbotszone über der Ukraine abgelehnt hat. Gegen Ende zitiert Selenskyj den ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan. Der hatte 1987 in Berlin an den sowjetischen Staats- und Parteichef appelliert: „Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder!“

Selenskyj weiß als ehemaliger Schauspieler und Medienprofi, wie er Nachrichten verpacken, mit welcher Körpersprache er Worte betonen muss. Er kann seine Stimme nach Belieben zwischen Bass und Bariton modulieren. Und: Er hat einen feinen Sensor dafür, mit welchen historischen Bildern er sein Publikum ansprechen muss.

Präsident der Ukraine kritisiert Bundesregierung für Verhältnis zu Russland

In Selenskyjs Worten stecken Enttäuschung und auch Verbitterung. Der unausgesprochene Subtext seiner Rede: Was muss noch passieren, damit ihr uns wirklich unter die Arme greift und die russische Kriegsmaschinerie gestoppt wird? Selenskyjs Schlussappell: „Lieber Herr Bundeskanzler, zerstören Sie diese Mauer. Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die Deutschland verdient.“

Die Bundestagsabgeordneten stehen auf, es gibt Standing Ovations. Es seien „eindrucksvolle Worte“ gewesen, sagt Scholz später. Er verweist auf die Unterstützung für die Ukraine, zu der auch Waffenlieferungen gehörten. Und erklärt zugleich: „Die Nato wird nicht militärisch in diesen Krieg eingreifen.“

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wendet sich heute in einer Videoansprache an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wendet sich heute in einer Videoansprache an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages. © dpa

Im Bundestag gerät Selenskyjs Rede sofort ins Klein-Klein der deutschen Innenpolitik. Die CDU/CSU-Faktion stellt den Antrag auf eine Debatte über den Ukraine-Krieg. Die Parteien der Ampel­koalition lehnen ab und wollen mit der Tagesordnung weitermachen. „Das war heute der würdeloseste Moment im Bundestag, den ich je erlebt habe“, schimpft der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen auf Twitter. Für CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz ist das Ganze „völlig unpassend“.

Kommentar zum Thema: Nach Selenskyjs Auftritt im Bundestag – Der Fremdschämmoment

Botschafter Andrij Melnyk zeigte sich enttäuscht, dass der Bundestag nach der Rede zur Tagesordnung überging. Die Ansprache werde „nachwirken hier in der Bundesrepublik, aber man braucht auch starke Taten – und darauf warten wir“, sagte Melnyk dem Sender ntv. Im Klartext: Der ­ukrainische Diplomat befürchtet, dass Selenskyjs Wünsche weitgehend verhallen.

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Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de