Hamburg. Vitali Klitschko wird schon jetzt als Bürgermeister für seinen Einsatz im Kampf um Kiew verehrt. Das macht ihn auch zur Zielscheibe.

Wo er seinen Platz sieht in diesem Krieg, den Russlands Machthaber Wladimir Putin in seinem Heimatland entfesselt hat, das hat Vitali Klitschko am Donnerstagabend noch einmal klargestellt. Unter dem Eindruck des massiven Raketenbeschusses versicherte der Mann, der die Hauptstadt Kiew seit 2014 als Bürgermeister regiert, dass er Seite an Seite mit den Soldaten der ukrainischen Armee an vorderster Front die Verteidigung gegen die Invasoren aufnehmen werde. „Ich habe keine andere Wahl, als die Waffe in die Hand zu nehmen und für meine Heimat zu kämpfen“, sagte der 50-Jährige.

Dass ein hochrangiger Politiker die Frontlinie dem Verhandlungstisch vorzieht, mag befremdlich wirken, doch niemand, der Vitali Klitschko kennt, dürfte davon überrascht sein. Der Kampf war schließlich schon sehr früh das zentrale Element in seinem Leben.

Weltweite Bekanntheit erlangte der in der damaligen Sowjetrepublik Kirgisistan geborene Klitschko als Profiboxer. Nach mehreren Hundert Kick- und Amateurboxkämpfen kam er 1996 in Begleitung seines Bruders Wladimir (45) nach Hamburg, wo er bis 2004 für den Universum-Stall und anschließend bis zu seinem Karriereende 2012 in Eigenregie mit der Klitschko Management Group in den Ring stieg.

Vitali Klitschko verlor nur zwei seiner 47 Profi-Boxkämpfe

Nur zwei seiner 47 Profikämpfe verlor er, und das auch nur, weil ihn eine Schulterverletzung und eine furchtbare Platzwunde am Auge stoppten. Aufgeben kam für den Mann, der unter dem Kampfnamen „Doktor Eisenfaust“ schonungslos gegen sich und seine Gegner agierte, niemals infrage. Vitali Klitschko war mehrfach Weltmeister im Schwergewicht und galt angesichts seiner fast unmenschlichen Nehmerfähigkeiten als nicht zu Boden zu zwingen.

Aber schon früh in seiner Karriere wurde deutlich, dass die Kämpfe im Ring nicht seine Bestimmung waren. Wer erlebte, mit welcher Energie er sich bereits 2004 in politische Belange involvierte, der konnte spüren, dass der promovierte Sportwissenschaftler nach mehr strebte, als ein gefeierter Sportheld zu sein.

Vitali Klitschko bei seinem letzten Kampf gegen Shannon Briggs.
Vitali Klitschko bei seinem letzten Kampf gegen Shannon Briggs.

Am liebsten hätte Klitschko seine in den USA anstehende Titelverteidigung abgesagt

Als sich im Nachgang der ukrainischen Präsidentschaftswahlen im Herbst 2004 an den Vorwürfen um Wahlfälschung die „Orange Revolution“ entzündete, hätte Vitali Klitschko am liebsten sofort seine in den USA anstehende Titelverteidigung gegen den Briten Danny Williams abgesagt. Nur mit größter Mühe konnte ihn sein 2014 verstorbener Cheftrainer Fritz Sdunek davon abhalten, aus dem Trainingslager in Österreich abzureisen.

Schon damals war in Gesprächen mit dem 202-Zentimeter-Hünen deutlich dessen Verachtung für die politischen Eliten in seinem Heimatland herauszuhören. Der Kampf gegen Korruption und für die Verbreitung demokratischer Werte stand für Vitali Klitschko über allem – und ließ ihn fortan nicht mehr los. 2006, während er seine Boxkarriere wegen eines Kreuzbandrisses für insgesamt fast vier Jahre unterbrochen hatte, kandidierte er erstmals für das Amt des Kiewer Bürgermeisters und scheiterte knapp gegen Leonid Tschernowetski, was sich bei vorgezogenen Neuwahlen zwei Jahre später wiederholte.

Klitschkos drei erwachsenen Kinder studieren im EU-Ausland

Doch auch auf politischem Parkett war Aufgeben keine Option für den Wahl-Hamburger, dessen Frau Natalie noch immer zeitweilig im Haus im Hamburger Westend lebt. Die drei erwachsenen Kinder studieren im EU-Ausland. Im April 2010 wurde er Vorsitzender der neugegründeten, prowestlichen Partei Udar (Ukrainische Demokratische Allianz), für die er mehrfach bei Parlamentswahlen antrat.

Vitali und Wladimir, der sich zwar aus politischer Verantwortung immer heraushielt, aber vor drei Wochen freiwillig in die Reservearmee eintrat und an der Seite seines engsten Vertrauten und Bruders kämpfen will, sind militärisch geprägt. Ihr 2011 verstorbener Vater Wladimir senior war Generalmajor der ukrainischen Luftwaffe, die Brüder sind an Waffen ausgebildet, gingen in Hamburg und in den USA regelmäßig auf den Schießstand. Schon bei den Maidan-Protesten im Winter 2013/14 stand Vitali Klitschko an der Front. Das Bild eines Mannes, der trotz zweistelliger Minusgrade ohne Kopfbedeckung vor brennenden Trümmern steht, ging um die Welt.

Politik in der Ukraine: „Gegen das waren Boxkämpfe wie ein Wellnessurlaub“

Am 25. Mai 2014 wurde er im dritten Anlauf zum Bürgermeister der Hauptstadt gewählt. Ein offenes Geheimnis ist, dass dieses Amt eigentlich nur ein Zwischenziel darstellen sollte. Bei der nächsten Präsidentschaftswahl plante Klitschko, gegen Amtsinhaber Wladimir Selenskyi in den politischen Ring zu steigen. Dank seiner Verbindungen insbesondere nach Deutschland, aber auch zu vielen anderen EU-Politikern, hat er sich über die Jahre außenpolitisch profiliert.

Als vor einigen Wochen die Bundesregierung ankündigte, der Ukraine 5000 Schutzhelme zur Verfügung zu stellen, gab es von Klitschko eine harsche Replik. Innenpolitisch stand er mehrfach unter großem Druck, auch Korruptionsvorwürfe wurden erhoben. „Gegen das, was ich in der Politik aushalten muss, waren Boxkämpfe wie ein Wellnessurlaub“, sagte er vor einigen Jahren in einem Gespräch mit dieser Zeitung.

Was er nun aushalten muss, lässt nicht nur seinen gesamten Lebensentwurf in sich zusammenbrechen. Russland dürfte ein gesteigertes Interesse daran haben, eine Ikone des Widerstands wie ihn in Haft zu nehmen. Schlimmer noch: In den Straßenkämpfen in Kiew droht ihm der Tod. Einen Krieg in ihrer Heimat erleben und die Hauptstadt gegen die russische Übermacht verteidigen zu müssen, das hätten sich beide Klitschkos vor wenigen Tagen in dieser Form nicht vorstellen mögen. Nun aber sind sie willens, alles zu geben für ihren Traum von einer unabhängigen, demokratischen Ukraine, sogar ihre Leben.

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt