Berlin . Angela Merkel, Claudia Pechstein und Jan Böhmermann haben eines gemeinsam: 2022 warten sie auf Urteile des Bundesverfassungsgerichts.

Noch in diesem Jahr will das Bundesverfassungsgericht voraussichtlich ein Urteil zum Cannabisverbot verkünden. Es dürfte nicht zuletzt politisch richtungsweisend sein. Das erklärt womöglich, warum die Parteien der Ampel-Koalition – SPD, FDP und Grüne – mit dem Projekt einer Cannabis-Freigabe keine Eile haben. Sie warten das Signal aus Karlsruhe ab.

Gleich vier Amtsgerichte hatten wegen des geltenden Cannabisverbotes Karlsruhe angerufen. Sie halten die Strafbarkeit aus zwei Gründen für verfassungswidrig: Weil sie "unverhältnismäßig" in die allgemeine Handlungsfreiheit eingreife und weil es gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoße, Cannabis zu verbieten, während das Rauschmittel Alkohol legal sei.

Cannabis-Liberalisierung: Mit dem Segen aus Karlsruhe?

Gerichtspräsident Stephan Harbarth ist sich wohl bewusst, dass die Klagen zu den Liberalisierungsplänen der Ampel passen; und ein Richterspruch politische Folgen haben dürfte. Im "früheren Leben" war er selbst Politiker und saß für die CDU im Bundestag.

Bei der Vorstellung des Jahresberichts 2021 kommt es darauf an, welche Entscheidungen die neun Richterinnen und sieben Richter (je acht im Ersten und Zweiten Senat) in Aussicht stellen – und welche Klagen Harbarth unerwähnt lässt. So geht er – wohl kaum ein Zufall – mit keinem Wort auf eine Beschwerde der Eisschnellläuferin Claudia Pechstein ein.

Urteil – Claudia Pechstein wartet seit sechs Jahren darauf

Es geht darum, ob das internationale Sportgericht in Lausanne ihre Schadensersatzklage wegen einer Dopingsperre überhaupt abweisen durfte. Pechsteins Pech: Der zuständige Berichterstatter im Ersten Senat, Richter Andreas Paulus, scheidet im März aus. Vieles spricht dafür, dass die Causa Pechstein für seine Nachfolgerin oder Nachfolger liegen bleiben wird. Pechstein wartet seit nunmehr sechs Jahren auf eine Entscheidung aus Karlsruhe.

Anders als Pechstein kann Ex-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ziemlich sicher mit einem Urteil über eine Äußerung rechnen, zu der sie sich vor zwei Jahren hinreißen ließ. Als vor zwei Jahren ein FDP-Politiker mit den Stimmen zum Thüringer Ministerpräsidenten gewählt wurde, schimpfte Merkel, das sei erstens "unverzeihlich", das Ergebnis müsse zweitens rückgängig gemacht werden.

In Karlsruher ein Dauergast: viele Beschwerden von der AfD

Prompt zog die AfD nach Karlsruhe. Im Juli 2021 wurde mündlich verhandelt. Schon in nächster Zeit dürfte das Verfassungsgericht darüber entscheiden, ob Merkel als Regierungschefin damals ihre Pflicht zur Neutralität im politischen Meinungskampf verletzt hat.

Im Karlsruher "Schlossbezirk 3" ist die AfD fast schon zum Dauergast: Sie führt mehrere "Organstreitverfahren": Gegen die Abberufung eines Ausschussvorsitzenden, gegen die fortgesetzte Verhinderung der Wahl eines Bundestags-Vizepräsidenten aus den Reihen der AfD, wegen der möglichen Benachteiligung der ihr nahestehenden Stiftung, wegen der Parteienfinanzierung und, und, und.

Zwei Entscheidungen zur Impfflicht noch in diesem Jahr?

Auch über zwei Klagen gegen eine Impfpflicht dürfte noch in diesem Jahr entschieden werden. Es geht zum einen um die einrichtungsbezogene Corona-Impfung in den Gesundheitsberufen und zum anderen über die Masernschutzimpfung, die 2020 in Kraft trat. Jede Kita darf von den Kindern, die dort betreut werden, eine Maserschutzimpfung verlangen.

Falls der Bundestag erwartungsgemäß Ende März sogar eine allgemeine Corona-Impfpflicht beschließen sollte, kann man sicher sein, dass es auch bei diesem Gesetz zu einem Nachspiel in Karlsruhe kommen wird. Corona ist dort seit zwei Jahren ein Dauerthema. Es geht immer um das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG).

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Der Karlsruher Verfassungsgerichtspräsident Stephan Harbarth kündigte eine Vielzahl von Urteilen für das Jahr 2022 an.
Der Karlsruher Verfassungsgerichtspräsident Stephan Harbarth kündigte eine Vielzahl von Urteilen für das Jahr 2022 an.

Kurios ist der Streitfall eines Autorennens in Villingen-Schwenningen. Es geht nicht etwa um zwei Autofahrer, die in der Stadt gegeneinander ein Rennen fuhren, sondern um einen Mann, der auf der Straße testete, wer schnell sein Auto ist und sich dabei grob verkehrswidrig und rücksichtslos verhielt. Das zuständige Amtsgericht wandte sich nach Karlsruhe, weil ihm die Strafbarkeit eines Rennens quasi gegen sich selbst zu unbestimmt erschien.

Fall Böhmermann: Jetzt ist das Verfassungsgericht am Zug

Nicht nur Juristen dürfte auch eine weitere Karlsruher Streitfrage bewegen, die der Bundesgerichtshof dem Verfassungsgericht vorlegte: Ist wirklich jede im Ausland rechtmäßig geschlossene Ehe mit Minderjährigen grundsätzlich nichtig? Oder ist das entsprechende Gesetz verfassungswidrig, weil der Einzelfall gar nicht geprüft wird.

Ein großes Echo und überdies außenpolitische Irritationen könnte ein weiteres für dieses Jahr angekündigte Urteil zur Böhmermann-Affäre auslösen. Zur Diskussion steht die Teil-Untersagung eines "Schmähgedichts" des Satirikers Jan Böhmermann, in dem es über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan heißt, "am liebsten mag er Ziegen ficken". Darf Satire alles?

Allein 2021 gingen in Karlsruhe 5352 Beschwerden ein. Und das obwohl die durchschnittliche Erfolgsquote der letzten zehn Jahre bei nur 1,85 Prozent lag. Seit seiner Gründung im September 1951 hat das Gericht über 250.000 Entscheidungen getroffen.