Berlin. In der Ukraine-Krise wirft der russische Präsident Putin dem Westen Wortbruch vor. Was stimmt – und warum das Problem woanders liegt.

Es ist ein schwerer Vorwurf, den Russlands Präsident Wladimir Putin gegen Deutschland und die anderen Nato-Staaten erhebt: Der Westen habe Moskau im Wiedervereinigungsjahr 1990 zugesagt, dass sich die Nato nicht nach Osten ausdehnen werde – und diese Zusage sei gebrochen worden.

Deshalb fordere er jetzt eben schriftliche Sicherheitsgarantien, so Putin zuletzt in einer Rede vor ausländischen Diplomaten in Moskau: Garantien, dass die Nato keine weiteren Staaten mehr aufnimmt und Truppen der Allianz aus den osteuropäischen Bündnisstaaten vom Baltikum bis Bulgarien zurückzieht. Die Nichterfüllung seiner Forderung könnte für Putin sogar ein vermeintlicher Grund sein, die Ukraine anzugreifen. Aber was ist dran an dem Vorwurf?

Tatsächlich haben Politiker aus Deutschland und anderen westlichen Staaten Anfang 1990, vor der Wiedervereinigung, mündliche Erklärungen abgegeben, die in Moskau als Absage an alle künftigen Nato-Ausdehnungen ostwärts hätten verstanden werden können. Voran der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der im Januar 1990 in einer Rede in der Akademie Tutzing versprach: „Was immer im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung des Nato-Territoriums nach Osten, das heißt näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es nicht geben.“

Hat Putin recht? Drei Gründe, warum er sich nicht auf Zusagen berufen kann

Der damalige US-Außenminister James Baker erklärte gegenüber dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow im Februar 1990, die Nato werde sich „nicht einen Zoll“ Richtung Osten ausdehnen. Nato-Generalsekretär Manfred Wörner versicherte im Mai 1990 als „feste Sicherheitsgarantie“ an die Sowjetunion, Nato-Streitkräfte würden nicht hinter den Grenzen der – damals noch kleineren – Bundesrepublik stationiert.

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Der russische Präsident Wladimir Putin.
Der russische Präsident Wladimir Putin. © dpa | Alexander Zemlianichenko

Doch kann sich Putin heute darauf berufen? Drei Gründe sprechen dagegen. Erstens versichern so gut wie alle Beteiligten im Rückblick, die Zusagen hätten gar nicht auf Osteuropa gezielt, sondern nur auf das Gebiet der DDR. Keine Nato-Truppen auf ehemaligem DDR-Gebiet, allein um diese bis heute geltende Zusage sei es in den Gesprächen gegangen, versichert der damalige Vizechef des Kanzleramts, Horst Teltschik. Ein anderes Versprechen habe es nicht gegeben.

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So sagt es Ex-Minister Baker, so sagen es auch Gorbatschow und sein damaliger Außenminister Eduard Schewardnadse: Es sei „ein Mythos“, dass er betrogen worden sei, erklärte Gorbatschow später. Schließlich habe 1990 noch der Warschauer Pakt existiert, das Verteidigungsbündnis des Ostblocks. Dass die Staaten des Warschauer Paktes einmal der Nato beitreten würden, sei damals „nicht vorstellbar gewesen“ – allein der Gedanke wäre Verrat am Pakt gewesen, so Gorbatschow.

Von Genscher allerdings weiß man, dass ihn später doch Gewissensbisse plagten. Der einst aus der DDR geflüchtete Außenminister ging, um die von ihm heiß ersehnte Wiedervereinigung nicht zu gefährden, in Moskau offenbar besonders weit mit seinen Ansagen. Genscher wollte seine Zusicherungen im Nachhinein nur als ein politischen Abtasten verstanden wissen. Die sowjetische Führung wusste aber ohnehin, dass Genscher nicht für den Westen und die Nato sprechen konnte.

Es gibt keine schriftlichen Zusagen, keinen Vertrag, keine Protokollnotiz

Hinzu kommt zweitens: In allen schriftlichen Vereinbarungen der Zeit, etwa beim Zwei-plus-Vier-Vertrag, spielte das Thema Nato-Ausdehnung nach Osteuropa keine Rolle. Eine schriftliche Zusage an Moskau gibt es nicht, auch keine Protokollnotiz. Entscheidend ist schließlich drittens: Als die Nato-Erweiterung ein paar Jahre später langsam doch ein Thema im Westen wurde, konnte sich Russland damit durchaus – wenn auch zähneknirschend – arrangieren. Sogar eine russische Mitgliedschaft im Bündnis wurde zeitweise diskutiert.

Der damalige Präsident Boris Jelzin habe signalisiert, Moskau akzeptiere die Aufnahme neuer Mitglieder, wenn parallel das Verhältnis zwischen Russland und der Nato auf eine neue, kooperative Basis gestellt werde, erinnert sich der frühere Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Wolfgang Ischinger.

Herzliche Umarmung: Die damaligen Präsidenten von Russland, Boris Jelzin (links), und der USA, Bill Clinton, scherzten 1995 bei einem Treffen in London.
Herzliche Umarmung: Die damaligen Präsidenten von Russland, Boris Jelzin (links), und der USA, Bill Clinton, scherzten 1995 bei einem Treffen in London. © AFP | DON EMMERT

1997 war es so weit: In der gemeinsamen Nato-Russland-Grundakte wurde die sich abzeichnende, schrittweise Erweiterung der Nato von Moskau grundsätzlich anerkannt – mit der Auflage, dass die Nato in Osteuropa keine fremden Truppen und keine Atomwaffen stationiert. Daran hält sich die Allianz, der inzwischen zwölf östliche Staaten beigetreten sind, bis heute. Mit der Gründung des Nato-Russland-Rates bekam Moskau einen Botschaftersitz und Zutritt im Nato-Hauptquartier.

Die Ukraine als Bindeglied zwischen West und Ost

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    Doch dann trübten sich die Beziehungen zwischen Russland und der Nato ein. Putin musste im Kreml zusehen, wie sich frühere Sowjetrepubliken als eigenständige Staaten aus der Einflusssphäre Moskaus entfernten und sich zunehmend nach Westen orientierten. 2007 markierte Putin in einer Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz eine harte Wende: Er warf den USA ein ungezügeltes Machtstreben vor, beklagte Völkerrechtsbrüche Washingtons und kritisierte nicht nur Pläne für den Aufbau eines US-Raketenabwehrschirms in Polen und Tschechien – sondern auch die inzwischen vollzogene Nato-Osterweiterung, mit der Moskau zugesicherte Garantien nicht eingehalten worden seien.

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