Berlin. Der künftige Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, über Deutschlands Rolle im Ukraine-Konflikt und Putins Motive.

Kaum ein Diplomat in Deutschland hat ein derart breites Profil wie er: Christoph Heusgen war außenpolitischer Berater von Kanzlerin Angela Merkel, hatte Spitzenpositionen im Außenministerium sowie bei der EU und arbeitete zuletzt als deutscher Botschafter bei den UN.

Der studierte Wirtschaftswissenschaftler redet ruhig und konzentriert, formuliert auf den Punkt. Ab dem 21. Februar leitet der 66-Jährige die Münchner Sicherheitskonferenz. Das Tête-à-Tête der Großen und Mächtigen findet vom 18. bis 20. Februar pandemiebedingt in abgespeckter Form statt.

Herr Heusgen, das Angebot der Bundesregierung, 5000 Schutzhelme in die Ukraine zu schicken, wurde auch in westlichen Ländern als schlechter Witz kritisiert. Hat sich die Bundesregierung blamiert?

Christoph Heusgen: Deutschland gehört seit Jahren zu den stärksten wirtschaftlichen und politischen Unterstützern der Ukraine. Zudem hat die Bundesregierung innerhalb der EU wiederholt dafür gesorgt, dass die Sanktionen gegen Russland infolge der Krim-Annexion 2014 nicht aufgeweicht wurden. Und sie hat mit den anderen Partnern entschieden, Russland aus den G8 auszuschließen. Deutschland mangelnde Solidarität gegenüber der Ukraine vorzuwerfen, ist nicht richtig.

Dieses vom Pressedienst des ukrainischen Verteidigungsministerium veröffentlichte Foto zeigt ukrainische Soldaten, die während einer Militärübung eine Javelin-Rakete abfeuern.
Dieses vom Pressedienst des ukrainischen Verteidigungsministerium veröffentlichte Foto zeigt ukrainische Soldaten, die während einer Militärübung eine Javelin-Rakete abfeuern. © dpa | Uncredited

Sollte Deutschland angesichts der aktuellen Bedrohung Waffen an die Ukraine liefern?

Heusgen: In Deutschland gilt die alte Regel, keine Rüstungsgüter in Konfliktregionen zu liefern. Aber ich glaube, wir machen es uns zu leicht, wenn wir grundsätzlich sagen: keine Waffen an die Ukraine. Wir müssen neben unserer Zurückhaltung auch daran denken, dass während des Zweiten Weltkriegs deutsche Sicherheitskräfte Massaker an jüdischen Ukrainern verübt haben. Wenn sich die Ukrainer heute hilfesuchend an Deutschland wenden, sollten wir sie mit Defensivwaffen unterstützen.

Die USA, Frankreich und Großbritannien wollen mehr Soldaten in osteuropäische Nato-Länder schicken. Sollte Deutschland das auch tun?

Heusgen: Deutschland hat das ja bereits getan. Als Reaktion auf die Krim-Annexion wurden im Rahmen einer Nato-Mission 1000 Bundeswehrsoldaten nach Litauen entsandt. Und wir beteiligen uns an der Überwachung des baltischen Luftraums, der regelmäßig von Russland verletzt wird. Aber wir sollten innerhalb der Allianz gemeinsam überlegen, wie wir auf die jüngste Aggression Russlands antworten. Deutschland könnte durchaus einen weiteren Beitrag leisten.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat die Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 lange Zeit als rein privatwirtschaftliches Vorhaben verteidigt. Erst neuerdings bezeichnete er sie im Fall einer russischen Invasion als Teil von möglichen Sanktionen. Warum ist SPD gegenüber Moskau so zaghaft?

Heusgen: Es ist nachvollziehbar, dass wir in sehr viel besseren Zeiten im Verhältnis mit Russland das Projekt Nord Stream begonnen haben. Heute ist es durch russisches Zutun zu einem politischen Vorhaben geworden. In der aktuellen Situation kann man das nicht ignorieren, und es ist notwendig umzudenken. Das passiert ja gerade, auch innerhalb der SPD. Ich begrüße ausdrücklich, dass Bundeskanzler Scholz jetzt auch Nord Stream 2 in potenzielle Sanktionsmaßnahmen einbezieht.

Christoph Heusgen, künftiger Chef der Münchner Sicherheitskonferenz.
Christoph Heusgen, künftiger Chef der Münchner Sicherheitskonferenz. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Große Teile der SPD werben für eine neue europäische Ostpolitik – eine Illusion?

Heusgen: Dazu gehören immer zwei. Willy Brandt hatte zum richtigen Zeitpunkt seine Ostpolitik gestaltet. Wir haben es aber seit 2012 mit einem russischen Partner zu tun, der systematisch in seinem eigenen Land die Reste von Demokratie zunichte gemacht hat. Wir sollten immer die Gesprächskanäle offenhalten. Wir dürfen jedoch nicht naiv sein.

Außenministerin Annalena Baerbock zeigt gegenüber Moskau klare Kante, während sich Scholz zurückhält. Hat die deutsche Außenpolitik ein Glaubwürdigkeitsproblem?

Heusgen: Die deutsche Russlandpolitik hatte in den letzten Jahren immer zwei Pfade. Einerseits war sie durch Härte geprägt, andererseits lag das Bemühen zugrunde, den Gesprächsfaden nach Moskau nie abreißen zu lassen. Diese Politik ist nach wie vor richtig.

Rechnen Sie mit einem russischen Einmarsch in die Ukraine – oder gar in die baltischen Staaten oder Polen?

Heusgen: Putin sieht, was in seiner Nachbarschaft los ist. In der Ukraine, in Belarus und zuletzt in Kasachstan hat sich die Bevölkerung gegen die postsowjetischen Oligarchen-Systeme gewendet. Der Kremlchef hat die Sorge, dass das auch bei ihm in Russland passieren könnte. Deshalb wurden Opposition, Zivilgesellschaft und Medienfreiheit brutal eingeschränkt. Putin versucht, durch einen populistischen Nationalismus Zustimmung zu bekommen. Als seine Popularitätswerte niedrig waren, hat er 2014 die Krim annektiert. Seine Werte sind daraufhin hochgeschnellt. Das müssen wir im Auge behalten. Sollte Putin versuchen, das sowjetische Imperium in russischem Gewand wiederherzustellen, muss sich die Internationale Gemeinschaft klar entgegenstellen und signalisieren: Bis hier hin und nicht weiter. Dazu gehören auch scharfe Sanktionen.

Wie sollte ein Sanktionspaket des Westens für den Fall eines russischen Einmarsches in die Ukraine aussehen?

Heusgen: Wir sollten uns genau anschauen, welche Maßnahmen wirken. Es geht darum, wie die russische Wirtschaft und auch die Oligarchen hart getroffen werden können, die das System Putin tragen. Man sollte kein Instrument von vornherein ausschließen – auch nicht die Abkoppelung Russlands vom Interbankensystem Swift.

Kanzler Scholz reist am 7. Februar zu seinem Antrittsbesuch nach Washington. Was wird er von Präsident Joe Biden, was vom Kongress zu hören bekommen?

Heusgen: Die Beziehung zwischen der Biden-Administration und Deutschland hat sich sehr positiv entwickelt. Wir haben die Zeiten der Trump-Administration hinter uns gelassen, in der heftigste, auch persönliche Kritik an Deutschland geübt wurde. Der Kanzler wird in Washington bestätigt bekommen, dass die Amerikaner der europäischen Sicherheit verpflichtet bleiben. Gleichzeitig wird dies mit der Aufforderung einhergehen, dass Deutschland in Europa und in der Welt mehr Verantwortung übernimmt.

Putin will jedoch in der Ukraine-Krise vor allem mit den Amerikanern reden, die Europäer sitzen am Katzentisch. Werden sie in Moskau überhaupt ernst genommen?

Heusgen: Putin möchte den USA auf Augenhöhe entgegentreten. Er sieht sich als Führer einer Weltmacht. Schon von seinem Anspruch her blickt er auf Europa herab. Es war ein Fehler, dass die US-Präsidenten Barack Obama, Donald Trump und jetzt Joe Biden verkündeten, sie konzentrierten sich auf China. Für Putin ist das eine Beleidigung. Er möchte weiter im Kreis dieser Großmächte stehen. Für Europa und die Nato ist es jetzt wichtig, den engen Schulterschluss mit Amerika zu suchen.

Kann das Normandie-Format, bei dem Deutschland, Frankreich, die Ukraine und Russland an einem Tisch sitzen, neue Impulse bringen?

Heusgen: Das Normandie-Format hat bei den Minsker Verhandlungen 2015 dafür gesorgt, dass der russische Vormarsch in der Ukraine gestoppt wurde. In der jetzigen Konstellation halte ich es allerdings nicht für wahrscheinlich, dass man zu einem Ergebnis kommt. Eine Umsetzung des Minsker Abkommens hieße, dass Russland eine Wiedervereinigung der Ukraine mit dem besetzten Teil des Donbass gestatten würde.

Der Kreml ist jedoch nicht daran interessiert, dass sich Kiew auf den politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau konzentrieren kann. Russland will die Ukraine weiter destabilisieren. Deshalb wird Moskau weiter behaupten, dass Kiew das Minsker Abkommen nicht umsetzt. In Wahrheit ist es Russland, das sich von Beginn an durch die Nichteinhaltung des Waffenstillstands, die Behinderung der OSZE-Beobachter und den ausbleibenden Rückzug schwerer Waffen nicht an die Minsker Vereinbarungen gehalten hat.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wirbt für einen starken europäischen Pfeiler innerhalb der Nato. Wie realistisch ist das?

Heusgen: Ich halte die Forderung Macrons für absolut gerechtfertigt. Wir müssen als Europäer mehr tun für unsere Verteidigung. Und ich finde es gut, dass der französische Präsident nicht nach einer Lösung außerhalb der Nato sucht. Wir müssen auf eine Situation vorbereitet sein, in der die USA eines Tages vielleicht unter einer anderen Regierung sagen: Sorry, in diesem Konflikt können wir euch nicht helfen. Das müsst ihr selbst erledigen.

Ich hoffe, dass das Desaster in Kabul nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 ein Weckruf für die Europäer war. Wir müssen jetzt ernst machen mit dem Aufbau einer europäischen Eingreiftruppe. Diese muss innerhalb kürzester Zeit einsatzbereit sein, wenn zum Beispiel europäische Bürger irgendwo auf der Welt in Bedrängnis geraten.

Macron fordert immer wieder „europäische Souveränität“ – ist das mehr als ein Slogan?

Heusgen: Ich mag das große Wort von der „europäischen Souveränität“ nicht. Wir sehen ja gerade im Konflikt mit Russland, wie dringend wir auf die amerikanische Unterstützung angewiesen sind. Ohne die USA im Hintergrund wären wir überhaupt nicht in der Lage, uns einer russischen Aggression zu widersetzen. Da dürfen wir keine Illusionen haben.

In wenigen Tagen beginnen die Olympischen Winterspiele in China. Werden die Athleten dieser Welt von Peking nicht für eine politische Propaganda-Show missbraucht?

Heusgen: Natürlich ist es die Absicht Chinas, die Olympischen Winterspiele auch zur Selbstdarstellung und Propaganda zu nutzen. Aber wenn man sich das Meinungsbild in Ländern mit einer freien Presse anschaut, hat Peking das Gegenteil erreicht. Es hat noch nie so viele Berichte über das traurige Schicksal der Uighuren und Tibeter, das aggressive Verhalten der Volksrepublik im Südchinesischen Meer oder die Knebelung der Opposition in Hongkong gegeben - alles Themen, die China am liebsten unterdrücken möchte.

Angesichts der Vielzahl an Menschenrechtsverstößen: Hätte der Westen nicht einhellig zu einem politischen Boykott der Spiele aufrufen müssen?

Heusgen: Es ist richtig, dass die Spiele nicht als Ganzes boykottiert werden. Die Sportlerinnen und Sportler haben sich jahrelang auf das Großereignis vorbereitet. Man darf ihnen nicht die Möglichkeit nehmen, an den Wettkämpfen teilzunehmen. Auch wäre es falsch, diese Sportveranstaltung völlig zu politisieren. Etwas anderes ist aber, den Machthabern in Peking nicht durch eine politische Präsenz Reverenz zu erweisen. Ich halte die Position der Bundesregierung für richtig, dass man dort nicht politisch vertreten ist.

Wie groß ist Ihre Sorge, dass 2025 wieder Donald Trump oder ein Trumpist im Weißen Haus sitzt?

Heusgen: Ich halte die Aussichten für einen Sieg der Republikaner bei der Präsidentschaftswahl 2024 für realistisch. Die Stimmung in den USA ist so, dass die Republikaner bei den Zwischenwahlen im Kongress im November beide Häuser des Kongresses gewinnen könnten. Viele Amerikaner haben mittlerweile Angst um ihre Demokratie. Das sollte uns in Europa mit großer Sorge erfüllen.

Das derzeitige transatlantische Hoch könnte sich als Zwischenhoch erweisen?

Heusgen: Das ist durchaus möglich. Wir können nicht davon ausgehen, dass Amerika immer der Partner bleiben wird, wie wir ihn lange Zeit kannten. Deswegen ist es so wichtig, dass wir in Europa unsere Hausaufgaben machen – in der Politik, in der Wirtschaft und bei der Verteidigung.

Im Atom-Streit mit dem Iran läuft die Zeit ab. Lässt sich eine iranische Atombombe noch verhindern?

Heusgen: Wir hatten mit dem internationalen Atomabkommen von 2015 einen Vertrag, der vom UN-Sicherheitsrat indossiert worden war, also völkerrechtliche Verbindlichkeit hatte. Er war nicht ideal. Aber er stellte sicher, dass der Iran auf absehbare Zeit keine Atomwaffe bauen konnte. US-Präsident Trump hat das Nuklearabkommen von einem Tag auf den anderen gekündigt – heute stehen wir vor dem Scherbenhaufen dieser Politik.

Das Hardliner-Regime in Teheran, dem sein Erhalt unter Missachtung der Menschenrechte das höchste Gut ist, ist heute mehr denn je bemüht, nah an der Möglichkeit des Baus einer Atombombe zu sein. Das ist Regimeerhalt für alle Fälle. Das Agieren der Trump-Regierung hat es in eine stärkere Position gebracht.

Welche politischen Hebel hat der Westen überhaupt noch, um eine iranische Atombombe zu verhindern?

Heusgen: Wir müssen dem Iran klar machen: Wenn er sich weiter in Richtung Nuklearwaffen bewegt, muss er mit härtesten Konsequenzen rechnen. Israel würde eine iranische Atombombe ebenso wenig akzeptieren wie andere Staaten am Persischen Golf, etwa Saudi-Arabien. Diese würden ihrerseits versuchen, in den Besitz von Kernwaffen zu kommen. Was dies an Unsicherheiten in einer ohnehin instabilen Region wie dem Nahen Osten bedeuten würde, will man sich nicht ausmalen.