Berlin. Die SPD-Chefin Saskia Esken will einen Omikron-Lockdown vermeiden. Sie verrät zudem, wie sie 2022 vier Landtagswahlen gewinnen will.

Nach dem erfolgreichen Bundestagswahljahr blickt die SPD-Vorsitzende Saskia Esken auf 2022: Sie will weitere Wahlen gewinnen und lehnt einen Lockdown für Geimpfte ab.

Frau Esken, wie haben Sie Weihnachten verbracht?

Saskia Esken: Wir haben im ganz engen Familienkreis gefeiert. Unsere drei erwachsenen Kinder und deren Lebenspartner - wir sind alle geimpft und geboostert und wir haben uns während der Feiertage und auch schon vorher jeden Tag getestet. Silvester wird eine ähnlich kleine Veranstaltung. Vorsicht und Rücksicht sind Trumpf in diesen Zeiten.

Blicken wir auf 2022: Die SPD stellt derzeit sieben von 16 Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten. Wie viele werden es in einem Jahr sein?

Esken: Wir werden gemeinsam dafür kämpfen, dass es dann drei mehr sind. Mit Anke Rehlinger könnte nach Malu Dreyer, Manuela Schwesig und Franziska Giffey die vierte Sozialdemokratin Ministerpräsidentin werden. Kurz darauf können mit Thomas Losse-Müller in Schleswig-Holstein und mit Thomas Kutschaty in Nordrhein-Westfalen zwei weitere sozialdemokratische Ministerpräsidenten dazukommen.

Ich bin mir sehr sicher, dass Stephan Weil als Ministerpräsident in Niedersachsen bestätigt werden wird. Dementsprechend wird die SPD Ende 2022 zehn Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten stellen.

SPD-Chefin Saskia Esken sorgt sich um die junge Generation in der Pandemie.
SPD-Chefin Saskia Esken sorgt sich um die junge Generation in der Pandemie. © Reuters | REUTERS / ANNEGRET HILSE

Es geht los im März mit den Wahlen im Saarland. Im Mai folgen Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Auf welche Themen setzen Sie, um die jeweiligen CDU-Regierungschefs abzulösen?

Esken: Besonders im Saarland und in Nordrhein-Westfalen stehen Fragen der Wirtschafts- und Industriepolitik im Zentrum. Es geht darum, wie gute Arbeit erhalten bleibt in einer Industriegesellschaft, die einen sozialen, einen ökologischen und einen digitalen Wandel erlebt. Anke Rehlinger bringt als amtierende Wirtschaftsministerin genau die Kompetenzen mit, die es dafür braucht.

Die Würde der Arbeit und der Respekt vor denen, die unser Land tagtäglich am Laufen halten, spielt für die SPD und für den Zusammenhalt in unserem Land eine große Rolle. Für unsere Zukunft ist es bedeutend, dass alle Kinder und Jugendlichen gute Chancen erhalten und ihre Potenziale entfalten können.

Gerade in Nordrhein-Westfalen war die Schulpolitik der letzten vier Jahre eine Enttäuschung und ist für viele Eltern eine schwere Belastung gewesen. Thomas Kutschaty hat bereits angekündigt, dass er das Versprechen von Bildung und Aufstieg erneuern möchte. Gute Arbeit, gerechte Bildung – das sind sozialdemokratische Herzensanliegen, auf die wir im Wahlkampf einen Schwerpunkt legen.

Wäre ein Sieg in Nordrhein-Westfalen die wichtigste Trophäe für die SPD in diesem Wahljahr?

Esken: Wahlsiege sind keine Trophäen, sie sind ein Auftrag und ein Vertrauensvorschuss. Es geht um Chancen und ein besseres Leben für die Menschen. Da in Nordrhein-Westfalen ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland lebt, hat das Land natürlich eine besondere Bedeutung.

Nordrhein-Westfalen wird oft als Herzkammer der deutschen Sozialdemokratie bezeichnet. Können Sie mit diesem Begriff noch etwas anfangen?

Esken: Wir haben die Bundestagswahl sowohl in der Herzkammer NRW gewonnen als auch in der Wiege der Sozialdemokratie, also im Osten. Wir sind in vielen Bundesländern viel stärker geworden. Klar kommt es auf Kopf und Herz an, aber es braucht auch Beine zum Laufen und Flügel zum Fliegen. Besonders zu kämpfen haben wir in Gegenden, in denen Strukturschwäche auf eine SPD trifft, die nicht mehr so stark ist wie früher.

Das heißt für Nordrhein-Westfalen, dass wir in den durch industriellen Wandel geschwächten Revieren in den Großstädten wieder stärker werden wollen. Dort werden wir die soziale Frage wieder klarer stellen, denn da ist die Schieflage besonders groß.

Den Wahlsieg von Stephan Weil im Oktober in Niedersachsen haben Sie schon fest eingeplant?

Esken: Wer sich voreilig zum Sieger erklärt, der hat meist schon verloren. Deshalb kämpfen wir bei jeder Wahl um jede Stimme, bis die Wahllokale schließen. Stephan Weil hat einen großartigen Job gemacht. Er ist nicht so laut wie andere Ministerpräsidenten. Er regiert mit sicherer und ruhiger Hand und das wissen die Menschen zu schätzen.

Kurz vor ihrer Wahl zur SPD-Vorsitzenden 2019 hat Weil gesagt, bei manchen Aussagen von Ihnen würden sich ihm die Nackenhaare sträuben. Hat er sich inzwischen entschuldigt?

Esken: Stephan Weil und ich sprechen regelmäßig miteinander. Allerdings über konkrete Politik.

Mit Ihnen und Norbert Walter-Borjans als Vorsitzende hat die SPD die Bundestagswahl gewonnen. Schmerzt es, dass Sie bei Ihrer Wiederwahl auf dem Parteitag im Dezember dennoch nicht mehr als 77 Prozent der Delegiertenstimmen bekommen haben?

Esken: Es freut mich vor allem, dass ich jetzt mit Lars Klingbeil die zweite Legislatur als Parteivorsitzende angehen darf. Dass wir zusammen die Möglichkeit haben, gemeinsam mit Kevin Kühnert als Generalsekretär die Geschicke der SPD in den nächsten zwei Jahren zu lenken.

Wir werden die SPD in ihrer Rolle als führende Regierungspartei stärken und die Bundespolitik mitgestalten. Gleichzeitig begreifen wir die Partei als eigenständige politische Kraft begreifen, die sich mit der Frage befasst: Worin liegt die Zukunft der Sozialdemokratie? Und was sind unsere Antworten auf die gesellschaftlichen Fragen von heute und morgen?

Zurück zum Parteitag: Ist es manchmal eine undankbare Aufgabe, SPD-Vorsitzende zu sein?

Esken: Das ist so dankbar oder undankbar wie jede andere Führungsaufgabe auch. Natürlich steht man im Rampenlicht und wird entsprechend begutachtet. Die Herausforderungen unserer Zeit sind enorm, und sie verlangen einen Aufbruch, einen Neubeginn. Die SPD wird Motor dieses Aufbruchs sein und dabei immer Stimme der sozialen Gerechtigkeit. Ich freue mich auf diese ehrenvolle Aufgabe und darauf, sie gemeinsam mit Lars Klingbeil fortsetzen zu dürfen.

Als Vizekanzler hat sich Olaf Scholz eng mit der SPD-Spitze abgestimmt. Hat er als Kanzler noch Zeit für Sie?

Esken: Ja, wir stimmen uns auch weiterhin regelmäßig ab. Wir wissen beide um die Rolle der SPD als führende Partei in dieser Koalition.

Die FDP befürwortet eine zweite Amtszeit von Frank-Walter Steinmeier als Bundespräsident. Haben Sie entsprechende Signale auch schon von den Grünen bekommen?

Esken: Für die SPD ist längst klar, dass wir eine zweite Amtszeit von Frank-Walter Steinmeier sehr begrüßen würden. Frank-Walter Steinmeier ist beliebt und genießt als Bundespräsident eine hohe Wertschätzung in der Bevölkerung. Es wäre ein Gewinn für Deutschland, wenn er weitermachen würde.

Was bereitet Ihnen in der Pandemie die größten Sorgen?

Esken: Die Situation der jungen Generation. Die Pandemie ist gerade für sie äußerst belastend. Gerade junge Menschen leiden an fehlenden sozialen Kontakten, die für ihre Entwicklung unersetzlich sind. Dazu kommt die scheinbare Ausweglosigkeit. Man fühlt sich wie in dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Nur ist es nicht lustig, wenn man selbst mittendrin steckt. Unsere Aufgabe ist es, den jungen Leuten die Zuversicht zu geben, dass wir das gemeinsam überwinden können.

Wie wollen Sie diese Zuversicht geben?

Esken: Je höher die Impfquote ist, desto größer ist unsere Chance auf eine Rückkehr zur Normalität. Wir haben bis Weihnachten 30 Millionen Impfdosen verabreicht. Im Januar wollen wir das noch einmal schaffen, das bezieht Impfungen von Kindern und Jugendlichen natürlich ein. Außerdem haben wir uns fest vorgenommen, eine Schließung der Schulen und Hochschulen zu verhindern.

Aber garantieren können Sie das nicht.

Esken: Es hat die allerhöchste Priorität, diese Orte der Bildung und der persönlichen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen offenzuhalten. Sonst fehlt nicht nur der Unterricht, sondern auch der Austausch untereinander. Wir müssen Kinder und Jugendliche stringent testen und so bald wie möglich auch durch eine Impfung schützen.

Und natürlich erwarte ich von Erzieherinnen und Erziehern und von Lehrkräften, dass sie Verantwortung übernehmen und sich impfen lassen, damit auch die Kinder geschützt sind.

Luftfilter gibt es immer noch nicht in allen Schulen. Können Sie nachvollziehen, dass Eltern darüber einfach nur den Kopf schütteln?

Esken: Das kann ich absolut nachvollziehen. Die Ausstattung von Schulen hängt aber weiterhin sehr stark von der finanziellen Leistungsfähigkeit von Kommunen ab. Die bereitgestellten Fördermittel des Bundes kamen zu spät dort an. Denn gerade in den Kommunen, wo ohnehin das Geld knapp ist, fehlen auch die für die Beschaffung und Umsetzung erforderlichen Planungskräfte. Nicht zuletzt in der Bildungspolitik müssen Bund, Länder und Kommunen ihre Zusammenarbeit wesentlich verbessern.

Das zeigt dann aber erst im nächsten Winter Wirkung…

Esken: Ja.

Derzeit wird über die allgemeine Impfpflicht beraten. Wie soll diese aussehen?

Esken: Fraktionsübergreifend bereiten Gruppen von Bundestagsabgeordneten derzeit Anträge dazu vor. Es gibt einen Vorschlag, eine Impfpflicht für alle über 18-Jährigen zu beschließen. Der andere Vorschlag wäre eine Impfpflicht für die über 60-Jährigen, die als Gruppe als besonders gefährdet gelten. Wer sich nicht impfen lässt, begeht dann eine Ordnungswidrigkeit, die mit einem Bußgeld belegt wird.

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Welches Modell befürworten Sie?

Esken: Ich halte eine Impflicht ab 18 Jahren für erforderlich. Das Corona-Virus ist vor allem für Ältere lebensbedrohlich, aber die Langzeitfolgen betreffen auch Jüngere. Insgesamt geht es um das Erreichen einer Impfquote, die die Gesellschaft als Ganzes schützt – gerade auch die, die sich nicht impfen lassen können. Am liebsten wäre es mir, wenn wir möglichst viele Ungeimpfte noch überzeugen könnten.

Gibt es Probleme für die Umsetzung der Impfpflicht?

Esken: Bisher ist die Datenlage darüber, wer wann und wie oft geimpft worden ist, sehr schlecht – wir erfassen das gar nicht oder nur sehr ungenau. Deswegen wird diskutiert, ob wir dafür ein zentrales Impfregister brauchen, wer darauf Zugriff hätte, was mit den Daten geschieht und so weiter.

Das Bundesverfassungsgericht hat sehr hohe Hürden für zentrale Register mit persönlichen Daten gesetzt. Entscheidend ist, dass wir den Zweck der Datenerhebung gut begründen. Wir werden uns zu dieser Frage sehr eng mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten beraten und werden sicher eine Lösung finden.

Am 7. Januar beraten Bund und Länder darüber, ob die Corona Maßnahmen noch einmal verschärft werden. Welche Bereiche sollten außer den Schulen ausgespart werden?

Esken: Wenn wir nach Frankreich schauen, können wir erahnen, wie Omikron sich in Deutschland verbreiten und auswirken wird. Allerdings sind wir mit 3G am Arbeitsplatz und im öffentlichen Verkehr, mit 2G/2Gplus und der Einschränkung privater Kontakte schon sehr viel weiter als die Nachbarn. Es ist zu erwarten, dass es sehr viele Infektionen geben wird und dann viele Beschäftigte in Quarantäne gehen müssen.

Deshalb ist es so wichtig, dass die kritische Infrastruktur, also zum Beispiel die Strom- und Wasserversorgung, sich für eine fünfte Welle mit einer hohen Zahl von Erkrankten wappnet. Wir denken, dass Gaststätten, Kultureinrichtungen und Einzelhandel für Geimpfte nach Möglichkeit geöffnet bleiben sollten. Die Anzahl der zugelassenen Personen könnte weiter beschränkt werden. Aber wir müssen das Land hoffentlich nicht nochmal herunterfahren, um den notwendigen Schutz zu bieten.

Jetzt steht Silvester vor der Tür, Böllern ist pandemiebedingt erneut verboten. Befürworten Sie ein generelles Böllerverbot auch für die Zukunft?

Esken: Ich kann mit der Böllerei persönlich nicht viel anfangen. Sie ist gefährlich, verängstigt Kinder und Tiere und sorgt für eine riesige Luftverschmutzung. Ein Schulfreund von mir hat sein Augenlicht an einen Silvesterböller verloren. Trotzdem bin ich keine Freundin genereller Verbote. Mir ist lieber, wenn die Menschen vernünftig sind.