Berlin. Das Projekt Nord Stream 2 war von Beginn an umstritten. In der Ukraine-Krise wird nun auch ein alter Verdacht politisch neu aufgeladen.

Allzu tief ist die Ostsee nicht, 52 Meter im Mittel. U-Boote operieren zumeist östlich einer Linie Rügen-Bornholm-Gotland, der tiefste Punkt liegt hier immerhin 459 Meter unter dem Meeresspiegel. Es ist zugleich das Gebiet, durch das Nord Stream 2 verläuft: die umstrittene russische Pipeline.

Ein alter Verdacht gewinnt neue Brisanz: Könnte die Gasröhre zur Spionage genutzt werden und Russland sich einen militärischen Vorteil verschaffen? Nach den Recherchen unserer Redaktion hat sich das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestags in dieser Woche in einer geheimen Sitzung genau damit befasst und den Bundesnachrichtendienst dazu befragt.

Spionageverdacht: Marineexperten hatten schon aufmerksam gemacht

Wie es heißt, hat der aufgescheuchte Auslandsdienst das Thema auf dem Schirm, aber keine Erkenntnisse. Der Grünen-Außenpolitiker und designierte Parteichef Omid Nouripour hatte die Geheimdienstkontrolleure auf die Spur gebracht.

Beiläufig hatte er in der „FAZ“ auf Berichte aufmerksam gemacht, wonach auf Turkstream, Gazproms Schwarzmeerpipeline von Südrussland in die Türkei, Spionagetechnologie montiert worden sei. „Bei Nord Stream 2 wäre das eine Frage der Sicherheit Deutschlands“, warnte der Grüne.

Von Anfang an haben Marineexperten auf das Risiko aufmerksam gemacht. Professor Joachim Krause, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Uni Kiel, beklagt im Gespräch mit unserer Redaktion, „die Gefahr einer militärischen Nutzung ist bei der Genehmigung von Nord Stream nicht berücksichtigt worden“.

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    Beweise gibt es nicht, nur eine „gut begründete Annahme“

    Eine Pipeline braucht Sensoren, um den Gasdruck zu messen, und Begleitkabel – Glasfaserkabel –, um Lecks zu lokalisieren. Entlang der Kabel kann man weitere Sensoren aller Art anbringen, auch militärisch relevante: Sonare, Magnetometer, Mikrofone.

    In deutschen Sicherheitskreisen wird das Risiko heruntergespielt – mit zwei Argumenten. Zum einen wurde Nord Stream 2 nicht von russischen Firmen verlegt. Zum anderen „hätten die Amis schon längst diese Karte gespielt“, wenn am Verdacht was dran wäre, so ein Geheimdienstexperte. „Beweise gibt es nicht“, räumt Krause ein. „Es ist bisher eine gut begründete Annahme.“

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    Nutzung des Unterwasserraums für akustische Aufklärung

    Sie stützt sich auf einen Artikel einer ukrainischen Fachzeitschrift der Autoren Michail Gonchar, Andrei Ryschenko und Bogdan Ustimenko vom Zentrum für Globale Studien. Sie verweisen darauf, dass Russland im Schwarzen Meer eine Nutzung des Unterwasserraums für akustische Aufklärung betreibe. Je mehr sich der Ukraine-Konflikt verschärft, desto größer sind der Argwohn und die Aufmerksamkeit außerhalb der Ukraine.

    Mit jeder Wartungsarbeit an der Pipeline durch russische Crews wachse die Gefahr, dass solche Sensoren auch an Nord Stream 2 installiert werden. Die Pipeline steht unter russischer Kontrolle. Sie ist von einem je 200 Meter breiten Schutzstreifen umgeben, der wiederum der Betreiberfirma vorbehalten ist. Manipulationen würden nicht sofort auffallen und wären schwer nachzuweisen.

    Gazprom widerspricht dem Verdacht vehement. Die Genehmigung zum Bau der Pipeline sei nur für einen bestimmten Zweck – den Transfer von Erdgas – erteilt worden, und mit jeder anderen Nutzung würde die Betriebsgenehmigung gefährdet, was Gazprom nicht riskieren wolle. In Friedenszeiten sticht das Argument, meint Krause, in einer Konfliktsituation nicht. Da wäre eine Sensorenkette ein militärischer Vorteil.

    Nouripour: Sicherheitsrisiko vor Inbetriebnahme prüfen

    Mit Sensoren könnte man gerade U-Boote orten. „Der Nachteil wäre die Gefährdung der deutschen U-Boote in der Ostsee“, meint Krause. Mehr noch: Die Russen könnten den gesamten militärischen Schiffsverkehr der Nato in der Ostsee verfolgen, insbesondere U-Boote sichten, und die bestehende Überlegenheit der Nato reduzieren.

    Hinzu kommt: Die Pipeline kreuzt alle relevanten Unterseekabel der Region. Wer zu ihnen Zugang hat, kann Datenströme stören, manipulieren oder gar ganz unterbinden. Für Militärs ist es Teil einer hybriden Unterwasserkriegsführung.

    Bisherige Forderungen waren politisch unrealistisch

    Krause schlägt vor, „die Länder, durch deren Seeterritorium die Pipeline verläuft, sollten Maßnahmen ergreifen, um eine militärische Nutzung zu verhindern“. Deutschland, Dänemark und Schweden könnten etwa Beobachter zu den Wartungsarbeiten entsenden oder verlangen, dass Inspekteure regelmäßig die Pipeline untersuchen.

    Bisher waren solche Forderungen politisch unrealistisch. Von Gerhard Schröder – einem Förderer und persönlichen Profiteur des Projekts – über Angela Merkel bis zu Olaf Scholz haben alle Bundeskanzler die Pipeline als kommerzielles Projekt abgetan.

    In der neuen Regierung sind es vor allem die Grünen, die nicht Gas geben, sondern bremsen, die Nord Stream 2 kritischer denn je beurteilen und die Frage in den Raum stellen, ob die Pipeline zur militärischen Falle werden könnte. Die militärische Sicherheit „sollte abschließend überprüft werden vor Inbetriebnahme der Pipeline“, mahnte der Grüne Nouripour.