Kabul/Berlin. Die Bundeswehr hat über 4500 Menschen aus Afghanistan ausgeflogen. 40.000 Ortskräfte einschließlich ihrer Angehörigen bleiben zurück.

Der Abschied war abrupt, kurz und unrühmlich. In der Nacht zum Dienstag hob das letzte US-Militärflugzeug aus der afghanischen Hauptstadt Kabul ab. Während der Wind Müll auf die Startbahn des Flughafens blies, hofften Tausende Menschen vor den Gates bis zum Schluss, auf eine Maschine zu kommen. Die radikalislamischen Taliban feuerten vor Freude Gewehrschüsse in die Luft.

„Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit“, triumphierte ein Sprecher der neuen Herren von Afghanistan. Es war das Ende des knapp 20 Jahre andauernden internationalen Militäreinsatzes am Hindukusch. Wie viele Ortskräfte, die für deutsche Stellen gearbeitet hatten, konnten gerettet werden? Wie viele Menschen mussten zurückbleiben? Wer hat jetzt noch Anspruch auf eine Evakuierung? Eine Bilanz am Tag eins nach dem Abzug der Amerikaner.

Die internationale Evakuierungsaktion

Nach der Machtübernahme der Taliban am 15. August startete die internationale Gemeinschaft eine groß angelegte Rettungsaktion. Insgesamt hätten die westlichen Staaten mehr als 120.000 Menschen ausgeflogen – eigene Staatsbürger und die Bürger anderer Länder, ehemalige afghanische Ortskräfte und Schutzbedürftige.

Wie viele Menschen gerettet wurden

Bis zum Ende der Luftbrücke am Donnerstag wurden 4587 Menschen nach Deutschland gebracht. Darunter befanden sich 403 deutsche und 3849 afghanische Staatsangehörige. Letztere hatten keinen Ortskräftebezug. Die Hälfte bestand aus Frauen und Mädchen.

Die Zahl der afghanischen Ortskräfte war hingegen gering: Sie belief sich auf nur 138 ehemalige Ortskräfte mit 496 Familienangehörigen. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes betonte, dass der Flughafen in Kabul das „Nadelöhr“ zur Evakuierung gewesen sei. Es sei für Personen mit deutschen Papieren viel leichter gewesen, die Checkpoints auf dem Weg zum Airport zu passieren, als für solche mit ausschließlich afghanischen Dokumenten. Die Konsequenz: Für frühere Ortskräfte gab es kaum ein Durchkommen.

Noch am 14. August – also einen Tag vor dem Fall Kabuls und wenige Tage vor Beginn der deutschen Evakuierungsaktion – waren beim Innenministerium für die gesamte Bundesregierung nur 174 zu evakuierende Ortskräfte registriert. Hinzu kamen deren Familienangehörige. Insgesamt 886 Personen sollten nach Deutschland ausreisen.

Einreise mit falschen Dokumenten

Die Visaerteilung und die Sicherheitsüberprüfung aller Afghanen sind erst nach ihrer Ankunft in Deutschland erfolgt. In Kabul wurde durch das Außenministerium lediglich eine Plausibilitätsprüfung vorgenommen. Die Zustände am Kabuler Flughafen ließen ein Regelverfahren nicht zu, hieß es. Innenminister Horst Seehofer (CSU) hatte dem zugestimmt und das damit verbundene Sicherheitsrisiko als vertretbar bezeichnet.

Bei der Evakuierung gab es aber offenbar auch Unregelmäßigkeiten. Laut Seehofer hatten drei der von Deutschland geretteten Afghanen gefälschte Dokumente. Vier seien schon einmal als Straftäter von Deutschland nach Afghanistan abgeschoben worden. „Dabei handelte es sich um schwere Straftaten“, so der CSU-Politiker. Den Afghanen droht allerdings keine erneute Abschiebung. Deutschland hat diese angesichts der Machtübernahme der Taliban für unbestimmte Zeit ausgesetzt.

Wie viele Menschen zurückbleiben

Den weitaus größten Anteil der Zurückgebliebenen machen die Ortskräfte aus, die für die gesamte Bundesregierung tätig waren. Einschließlich Familienangehörigen beziffert das Innenministerium die Zahl auf mehr als 40.000. Im Schnitt kommen auf eine Ortskraft vier bis fünf Familienmitglieder. Die Zahl habe sich aufgrund von „Nachmeldungen“ verschiedener Ministerien ständig erhöht, heißt es. Das Geschehen sei „nach wie vor dynamisch“. Lesen Sie hier: Afghanistan: Das Schicksal der Menschen steht jetzt im Fokus

Das Auswärtige Amt spricht bei den Zurückgebliebenen von „Menschen, für die wir in Afghanistan Verantwortung tragen“. Dabei gehe es prinzipiell um drei Gruppen: deutsche Staatsangehörige, Ortskräfte oder ehemalige Ortskräfte deutscher Institutionen sowie eine „Gruppe von uns identifizierten besonders gefährdeten Personen aus der Zivilgesellschaft“. In die letzte Kategorie fallen etwa Journalistinnen und Journalisten, Richterinnen oder Menschrechtsaktivistinnen und -aktivisten.

Die Bundesregierung habe „auch Zusagen gemacht, dass sie aufgenommen werden“, betont das Innenministerium. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes umfasst diese Gruppe „eine hohe vierstellige Zahl“, einschließlich der Familienangehörigen.

Maas- Militäreinsätze zum Export unserer Staatsform ungeeignet

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    Außenminister Heiko Maas (SPD) verhandelte auf seiner an diesem Mittwoch zu Ende gehenden Reise in die Region, wie eine zivile Ausreise über die Außengrenzen Afghanistans oder den Flughafen Kabul aussehen könnte. Zu diesem Zweck sprach er mit Vertretern der Türkei, Usbekistans, Tadschikistans, Pakistans und Katars.

    Nachbarländer sagten zwar die Öffnung der Grenzen für Menschen mit einem Visum für die Weiterreise nach Deutschland zu. Wie dies konkret ablaufen soll, blieb aber offen. Hinzu kommt: Ausreisen aus Afghanistan auf dem Landweg sind äußerst beschwerlich. Sie setzen Verfahren eines sicheren Geleits für die Flüchtenden voraus, worauf sich die Taliban aber bislang nicht verpflichtet haben.

    Die Zukunft des Flughafens von Kabul

    Bislang spielte der Flughafen der afghanischen Hauptstadt bei der internationalen Evakuierungsmission eine Schlüsselrolle. Außenminister Maas hielt am Dienstag bei einem Besuch in Pakistan eine Ausreise mit Charterflügen für denkbar, wenn der Airport wieder genutzt werden könne: „Wir hoffen, dass das in einem überschaubaren Zeitraum der Fall ist“, sagte er. Über eine mögliche Fortsetzung der Evakuierungen nach dem US-Truppenabzug führe Berlin auch Gespräche mit den Taliban.

    Generalmajor Chris Donahue steigt in die letzte US-Militärmaschine.
    Generalmajor Chris Donahue steigt in die letzte US-Militärmaschine. © AFP | JACK HOLT

    Bisher war die Nato für das Funktionieren des Flughafens entscheidend: Zivilpersonal des Militärbündnisses übernahm die Luftverkehrskontrolle, die Treibstoffversorgung und die Kommunikation. Soldaten aus der Türkei, den USA, Großbritannien und auch Aserbaidschan waren für die Sicherheit am Flughafen zuständig.

    Eine Zeit lang sah es so aus, als könnte die Türkei die Verantwortung für die Sicherheit des Flughafengeländes übernehmen. Ankara und der Westen hofften, dass die Taliban ein kleines Kontingent von Soldaten aus dem mehrheitlich muslimischen Nato-Staat akzeptieren würden. Doch die Extremisten haben wiederholt erklärt, dass sie nach dem 31. August keinerlei ausländische Militärpräsenz mehr dulden würden.

    Derzeit wird ein Vorschlag diskutiert, wonach die Islamisten selbst für die Sicherheit am Flughafen sorgen – und die Türkei den operativen Betrieb übernimmt. Außer mit der Türkei verhandeln die Taliban aber auch mit dem politisch einflussreichen Golfemirat Katar sowie mit privaten Firmen über den künftigen Betrieb des Airports.

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