Berlin. Für die Menschen in Afghanistan hätte es nicht schlimmer kommen können. Ihr Schicksal muss jetzt im Vordergrund stehen. Ein Kommentar.

Die Tragödie von Kabul, die sich in den vergangenen Tagen vor den Augen der Weltöffentlichkeit entfaltet hat, ist in eine Katastrophe mit Ansage und in die heftige Demütigung des Westens eskaliert. Die Bilder von den Anschlägen am Flughafen der afghanischen Hauptstadt sind in ihrer Grausamkeit kaum zu ertragen.

Für die Menschen in Afghanistan sind sie ein Ausblick in eine düstere und unheilvolle Zukunft. Die internationale Gemeinschaft hat mit dem Truppenabzug ein Land hinterlassen, das sich in den kommenden Wochen und Monaten in eine mittelalterliche Klerikaldiktatur verwandeln wird, die ihrerseits von noch brutaleren Extremisten des sogenannten Islamischen Staats attackiert wird.

Schlimmer hätte es nicht kommen können. In Afghanistan stehen sich jetzt Islamisten gegenüber, deren Geburtshelfer die westliche Interventionspolitik war. Die Taliban gründeten sich in den 90er-Jahren in pakistanischen Flüchtlingscamps und Koranschulen als Gegenbewegung zu den Mudschaheddin, die von den USA als Aufstandsbewegung gegen die sowjetische Besatzung Afghanistans in den 80er-Jahren unterstützt und aufgerüstet worden waren.

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Afghanistan: Debakel muss zu Überdenken westlicher Außenpolitik führen

Reporter Jan Jessen.
Reporter Jan Jessen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Der IS wiederum ist ein Kind auch der verfehlten Nachkriegspolitik im Irak. Das historische Debakel in Afghanistan muss zwingend zu einem grundsätzlichen Überdenken westlicher Außenpolitik führen. Den Menschen in dem geschundenen Land wird das aber nicht helfen, insbesondere jenen nicht, die den Verheißungen einer besseren Zukunft geglaubt und sich für sie eingesetzt haben.

Die Taliban präsentieren sich zwar moderater und weltzugewandter als in den 90er-Jahren, weil sie international anerkannt werden und finanzielle Unterstützung für ihr ausgemergeltes Land erhalten wollen. Es spricht aber vieles dafür, dass dies nur eine Maskerade ist. So gibt es bereits zahlreiche Berichte über Zwangsverheiratungen in den Provinzen, über Massaker an Minderheiten wie den schiitischen Hazaras, über Rachemorde.

Frauen müssen davon ausgehen, auch in weltoffeneren Großstädten wie Kabul oder Herat wieder in die Burka, das blaue Stoffgefängnis, gezwungen und entrechtet zu werden. Die Taliban-Führung hat sie bereits aufgefordert, vorerst nicht auf der Arbeit zu erscheinen. Für Alleinerziehende bricht die Einkommensquelle für die Familie weg.

Menschenrechtsaktivisten berichten von Razzien

Im Gesundheitswesen und an den Universitäten ist wieder die strikte Geschlechtertrennung eingeführt worden, vielerorts gibt es aber keine weiblichen Lehrkräfte oder Medizinerinnen. Journalistinnen, Frauenrechtsaktivistinnen und Richterinnen, die es nicht ins Ausland geschafft haben, sitzen seit der Machtübernahme zu Hause, voller Angst vor dem, was kommen wird.

Menschenrechtsaktivisten und Leute, die für ausländische Organisationen gearbeitet haben, berichten von Razzien, bei denen die Taliban Dokumente und Computer beschlagnahmt haben. Sie wissen alle, dass sie auf den Listen der neuen Machthaber stehen und harte Repressalien, wenn nicht Schlimmeres zu befürchten haben, wenn die ausländischen Zeugen das Land verlassen.

Wenn der Westen nun gezwungenermaßen mit den Taliban verhandelt, dann muss das Schicksal dieser Menschen im Vordergrund stehen. Wollen die neuen Machthaber Unterstützung, müssen sie zu Konzessionen bereit sein. Es darf keine Menschenrechtsrabatte geben, wie sie Ländern wie Saudi-Arabien in der Vergangenheit gewährt wurden, weil der Westen von ihren Rohstoffen abhängig ist. Wenn es aufgrund politischer Verfehlungen und Fehleinschätzungen schon nicht möglich war, all die aktuell Gefährdeten in Sicherheit zu bringen, so dürfen sie jetzt nicht vergessen werden.