Kabul/Berlin. Deutschland startet Rettungsflüge aus Kabul. Doch viele afghanische Helfer der Bundeswehr kommen nicht zum Flughafen – und haben Angst.

Der Weg in die Freiheit führt durch eine Stadt, die ihr Gesicht verändert hat. Taliban kontrollieren viele Straßenecken, bewaffnet mit Kalaschnikows. Manche hocken in Fahrzeugen, die vor ein paar Tagen noch der afghanischen Polizei gehörten. Andere Kämpfer der Islamisten tragen amerikanische Waffen, patrouillieren in Pickup-Trucks.

Erst langsam trauen sich Händler wieder auf die Straßen, öffnen Restaurants und Geschäfte. Ein neuer Alltag unter Islamisten beginnt in Afghanistan. Frauen sieht man an diesem Mittag wenige auf den Straßen Kabuls.

Flughafen von Kabul ist das Nadelöhr der Rettungsmission

Die Strecke zum Flughafen von Kabul ist an diesem Dienstagmittag frei. Keine Checkpoints. Vor dem Tor des Flughafens aber tummeln sich Tausende verzweifelte Afghanen, amerikanische Soldaten und afghanische Truppen geben immer wieder Warnschüsse ab, sperren immer wieder die Tore, lassen zeitweise offenbar niemanden mehr rein. Zu groß ist das Risiko, dass Menschen die Startbahn der Flugzeuge überrennen. Sich in ihrer Verzweiflung wieder an den Rumpf von Maschinen klammern. Sterben.

Für die historische Rettungsmission aus dem von Taliban besetzten Land ist der Flughafen von Kabul das Nadelöhr in die freie Welt. Von hier starten und landen die Maschinen, die auch die Bundeswehr nun geschickt hat. Alle anderen Wege aus Afghanistan sind durch die Taliban blockiert. Dass der Flughafen unter Kontrolle bleibt, ist für die Amerikaner, die Deutschen und anderen Ausländer, aber auch für die afghanischen Helfer der internationalen Truppen die Lebensversicherung.

Bundeswehr-Maschine fliegt 125 Menschen nach Taschkent

Am Nachmittag Ortszeit, kurz vor 16 Uhr, landet ein Flugzeug der Bundeswehr, die A400M. Fallschirmjäger steigen aus, sollen die Maschine sichern. Rund 120 Deutsche, Afghanen, andere Ausländer steigen ein. Sie stehen auf Listen der Botschaften, die nur noch mit ein paar Dutzend Mitarbeitern im Notbetrieb in der Flughafenhalle arbeiten. Die Namen auf der Liste sind die Menschen, die an Bord dürfen. Zuvor wird das Gepäck mehrfach kontrolliert, Ausweise ebenfalls, Daten abgeglichen.

Afghanistan, Kabul: US-Soldaten bewachen eine Absperrung am internationalen Flughafen. Immer wieder fallen Warnschüsse. Es kam am Vortag zu chaotischen Szene, Menschen starben
Afghanistan, Kabul: US-Soldaten bewachen eine Absperrung am internationalen Flughafen. Immer wieder fallen Warnschüsse. Es kam am Vortag zu chaotischen Szene, Menschen starben © dpa | -

Die Rettung der letzten Deutschen und einiger Ortskräfte läuft an – nachdem ein erster Flieger der Bundeswehr am Vorabend mit nur sieben Geretteten wieder vom Flugfeld abheben musste, fünf Deutsche, ein Afghane, ein Niederländer. Der fast leere deutsche Bundeswehr-Flieger – er ist ein bitterer Kontrast zu einer Maschine der amerikanischen Luftwaffe, die kurz davor abgehoben war: An Bord mehr als 600 Menschen, dicht gedrängt hocken sie im Innenraum des Fliegers.

Bundeswehr-Mission: Jede verpasste Chance kann Leben kosten

Am Tag zwei nach Beginn der Notoperation geht es auch darum, wie gut Deutschland und die Bundeswehr diesen Einsatz starten. Oder wie überfordert sie sein werden. Jeder Fehler, jede verpasste Chance kann Menschenleben kosten. Denn die Bundesregierung weiß am Dienstag nicht, wie lange die amerikanischen Soldaten den Kabuler Flughafen noch in Betrieb halten. Davon, sagen Regierungsbeamte, hängt alles ab.

Das Land unter Kontrolle: Talibankämpfer stehen an einem Kontrollpunkt in der Nähe der US-Botschaft, der zuvor von amerikanischen Truppen besetzt war, Wache.
Das Land unter Kontrolle: Talibankämpfer stehen an einem Kontrollpunkt in der Nähe der US-Botschaft, der zuvor von amerikanischen Truppen besetzt war, Wache. © dpa | -

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) sagt am Dienstag, man wolle „alles mitnehmen, was vom Platz her passt“. Die Bundeswehr will mit Hilfe der US-Armee eine Art „Luftbrücke“ einrichten. Flieger sollen von Kabul nach Usbekistan fliegen, eine Art „Shuttle“ in die Freiheit.

Doch wer gerettet werden will, muss sich durchschlagen zum Flughafen in Kabul. Nur da sind noch westliche Soldaten. Niemand fährt derzeit zu Einsätzen in die Hauptstadt. Die Taliban kontrollieren die Zufahrtswege. Der Rest des Landes ist ohnehin schon unter Islamisten-Kontrolle. Wer einen Flieger nach Usbekistan will, muss bei den deutschen Diplomaten registriert sein. Und er muss zu ihnen kommen.

„Wenn die Taliban mich finden, weiß ich nicht, was mit mir passiert“

Raz steht auf keiner Liste. Er versteckt sich in der Wohnung von einem Freund, irgendwo in dem Häusermeer der Metropole Kabul, mit ihren gut vier Millionen Einwohnern. Bei ihm sind seine Frau, seine drei Söhne und seine beiden Töchter. Seinen genauen Ort will er nicht nennen, seinen ganzen Namen auch nicht. Er weiß nicht, wie er und seine Familie fliehen sollen. Raz hat Angst. „Wenn die Taliban mich finden, weiß ich nicht, was mit mir passiert.“ Für die Islamisten gilt er als „Verräter“, als „Kollaborateur mit den Besatzern“.

Viele Jahre hat der Afghane für das deutsche Unternehmen „Xeless“ im Camp der Nato-Truppen in Mazar-i-Sharif gearbeitet, im Norden Afghanistans. Raz ist eine von gut 2000 Ortskräften. Deutschlands Helfer im Kriegsgebiet, Dolmetscher, Fahrer, Köche, Wachleute. Rund 350 von ihnen samt engsten Familienangehörigen waren in den vergangenen Monaten bereits nach Deutschland ausgereist. Doch viele sind noch in Afghanistan.

Ortskräfte bangen in Afghanistan um ihr Leben

Die deutsche Firma, für die Raz gearbeitet hat, hat bis zum Abzug der Truppen Leitungen im Lager verlegt, die Rollbahn am Flughafen ausgebessert, Hallen gebaut, Betonplatten verlegt. Raz hat übersetzt, die Bauprojekte begleitet. Doch weil er bei einem deutschen Unternehmen angestellt war und nicht bei der Bundeswehr, darf er nun nicht nach Deutschland. Raz sagt: „Die Taliban unterscheiden nicht, bei wem ich angestellt war. Für sie bin ich ein Verräter.“

Raz geht nicht auf die Straße, ein Freund versorgt ihn und seine Familie mit Essen und Trinken, kocht für ihn. Raz weiß nicht, wie lange er durchhält. Vor allem aber weiß er nicht, was aus ihm wird. „Zurück nach Mazar-i-Sharif kann ich nicht. Alle wissen dort, dass ich für die Bundeswehr gearbeitet habe.“ Doch auf einen deutschen Rettungsflieger darf er auch nicht. Raz steckt fest.

Taliban durchsuchten bereits erste Häuser

Und die Taliban, so sagen es deutsche Regierungsbeamte, aber auch Hilfsorganisationen vor Ort, würden bereits von Haustür zu Haustür ziehen und nach Menschen wie Raz suchen, Ortskräfte, aber auch Journalistinnen und Journalisten, Künstlerinnen und Menschenrechtler. Alle, die sich der radikalen Ideologie der Taliban in den vergangenen Jahren entgegengestellt haben.

„Die Häuser von drei unserer Mitarbeiter*innen wurden bereits durchsucht. Wir haben sie verstecken können, aber ihr Leben ist in akuter Gefahr. Sie zählen jetzt auf uns und jede Sekunde zählt“, schreibt die Leiterin des Büros der Deutschen Welle in Afghanistan auf Twitter.

Ulrich Horsmann konnte schnell ausreisen aus Afghanistan. Er ist Deutscher, und Geschäftsführer der Firma von Raz. „Ich telefoniere mit Kontakten vor Ort, sie berichten mir über die Lage meiner Angestellten“, sagt Horsmann. „Und ich versuche seit Tagen Kontakt mit der Bundesregierung und dem Außenministerium zu bekommen. Da erreiche ich niemanden, das ist völlig sinnlos.“

Deutsche Unternehmer setzen sich für Mitarbeiter ein

Über einen Kontakt zu einem früheren Regierungssprecher habe er nun versucht, Menschen wie Raz und insgesamt knapp 30 weitere afghanische Ortskräften zu helfen. „Sie müssen aus dem Land raus. Es ist lebensgefährlich für sie“, sagt er. Deutschland müsse sie aufnehmen, die Menschen hätten jahrelang mit ihm für die Nato-Truppen gearbeitet. „Das kann eine deutsche Regierung nicht einfach ignorieren“, sagt Horsmann.

Auch der junge Afghane Hesham versteckt sich. Er ist wie Raz afghanische Ortskraft. Nur: Er hatte einen Vertrag bei der Bundeswehr. Er darf kommen. Wenn Hesham es denn zum Flughafen schafft. „Freunde von mir waren schon dort, doch sie sind wieder abgehauen. Die Lage ist zu gefährlich, es fallen Schüsse, es ist chaotisch. Wir wissen nicht, ob die Deutschen uns auf die Flugzeuge lassen“, sagt er im Telefonat mit unserer Redaktion. Und solange er keine Sicherheit habe, bleibe er in seinem Versteck.

Hesham steht auf der Liste der Deutschen am Flughafen. Er schickt ein Foto eines Zertifikats, das ihm die Bundeswehr ausgestellt hat. Es belegt, dass er zwei Jahre als Übersetzer im Camp gearbeitet hat. „Sehr zufrieden“ sei das Verteidigungsministerium mit seiner Arbeit gewesen.

Deutsche Institutionen lassen Ortskräfte allein

Nun aber kommt auch Hesham nicht raus. Er hat versucht, die deutsche Botschaft zu erreichen, die Bundeswehr, das Auswärtige Amt in Berlin. „Niemand geht ran, die Bundeswehr verweist mich nur an das Außenministerium.“ Hesham hat keine Informationen, wann er auf ein Flugzeug der Bundeswehr soll. Und wie er überhaupt zum Flughafen kommen soll – in einer Stadt, die voll mit Taliban ist, die vor allem Ausländern sichere Abreise gewähren wollen.

In seinem Namen und in dem seiner Freunde, die mit ihm ausharren, schreibt er auf Deutsch auf Twitter: „Wir warten, keiner hat uns kontaktiert, die Situation am Flughafen ist sehr schlecht, kein Essen, kein Wasser.“ Er richtet diese Nachricht auch an die Bundeswehr. Eine Antwort bekommt er nicht.

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