Berlin. Wenn die Deutschen heil aus Kabul zu Hause sind, muss es daher Konsequenzen geben – meint Chefredakteur Jörg Quoos in seinem Kommentar.

Schüsse auf verzweifelte Flüchtende. Menschen, die aus den Fahrwerkschächten startender Maschinen vom Himmel fallen. Bewohner, die mit Waffengewalt an ihr Erspartes kommen wollen. Familien mit Kindern, die ohne Versorgung auf der Straße überleben müssen. Die Welt erlebt derzeit am Fernseher Szenen wie aus einem schlechten Endzeit-Thriller, und es beschleicht einen das bittere Gefühl: Das Schlimmste steht den Menschen in Afghanistan erst noch bevor.

In atemberaubender Geschwindigkeit ist die staatliche Ordnung des Landes zusammengebrochen, und alle Verantwortlichen in Deutschland geben sich überrascht. Mehr Naivität und Kurzsichtigkeit gab es lange nicht in der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik. Das darf nicht ohne Konsequenzen bleiben.

Wenn alle deutschen Staatsbürger hoffentlich bald sicher zu Hause sind, sollte dieses erschreckende Versagen aufgearbeitet und die Frage beantwortet werden: Wie konnte es zu einer derart katastrophalen Fehleinschätzung der Lage kommen?

Afghanistan: Liste der Versäumnisse ist erschreckend lang

Jörg Quoos, Chefredakteur Funke Zentralredaktion Berlin
Jörg Quoos, Chefredakteur Funke Zentralredaktion Berlin © Dirk Bruniecki

„Dass in wenigen Wochen die Taliban in Afghanistan das Zepter in der Hand haben, das ist nicht die Grundlage meiner Annahme“, dozierte Außenminister Heiko Maas noch im Juni im Deutschen Bundestag. Hätte er es mal angenommen – zumindest für einen alternativen Plan B. Dann wäre das Auswärtige Amt vielleicht besser vorbereitet gewesen, und die Bilanz wäre nicht ganz so desaströs, wie sie sich heute darstellt. In der Geschichte Afghanistans haben schon viele kühne Pläne und „Roadmaps“ nicht funktioniert, das hätte der Außenminister eigentlich wissen und vorbauen müssen.

Die Liste der Versäumnisse ist erschreckend lang: Es gibt und gab kein von langer Hand geplantes und politisch abgestimmtes Rettungskonzept für die vielen Tausend Ortskräfte, die für die Bundeswehr gearbeitet haben und jetzt gemeinsam mit ihren Familien mit dem Tode bedroht sind. Stattdessen ein würdeloses Geschacher um Kontingente und verzweifelte Versuche, das Schlimmste in allerletzter Minute zu verhindern.

Keinen Notfall-Rettungsplan, keine Idee zum Umgang mit den Taliban

Es gab keinen Notfall-Rettungsplan für die schnelle Evakuierung der Botschaft, obwohl die Taliban für alle erkennbar von Sieg zu Sieg eilten. Seit Wochen hat die Botschaft auf die Gefahr für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hingewiesen – vergeblich. Als die Taliban die Hauptstadt erreichten, standen die Rettungsflieger noch auf deutschem Boden. Wieder einmal mussten die Amerikaner die Ausputzer für die hilflosen Deutschen spielen.

Es gibt bis heute auch keine erkennbare Idee, wie mit den neuen Machthabern – so archaisch sie auch sein mögen – umgegangen werden soll. Auf die Taliban zu schießen und den Geldhahn zuzudrehen, wie der Außenminister droht, wird diplomatisch keine nachhaltige Lösung sein, um die Region einigermaßen zu stabilisieren und Flüchtlingsströme abzuwenden.

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Desaster muss umfassend aufgeklärt werden

Wetten, dass der Außenminister auch hier zu neuen Annahmen kommen muss? Es braucht jedenfalls schnell einen Plan, wie Deutschland, in Abstimmung mit Europa, einem islamischen Gottesstaat am Hindukusch begegnen soll.

Und der Deutsche Bundestag wird nicht umhinkommen, das Afghanistan-Desaster in einem Untersuchungsausschuss oder mit einer Enquete-Kommission en détail aufzuarbeiten.

Die Afghanistan-Mission war die mit Abstand längste, blutigste und teuerste. Hinter 59 gefallene Bundeswehrsoldaten und Milliarden an Steuergeldern darf man angesichts dieses Fiaskos nicht einfach einen Haken machen und zur Tagesordnung übergehen.

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