Berlin/Kabul. Der Krieg im Land eskaliert, Taliban überrennen die Städte. Hunderttausende sind auf der Flucht. Auch Deutschland ergreift Maßnahmen.

Wer wissen will, wie dramatisch die Lage der Menschen in Afghanistan ist, der kann das Passamt im Zentrum der Hauptstadt besuchen. Es ist eine Art Seismograph dafür, wie viele Menschen das Land verlassen wollen. Seit Wochen ist die Schlange vor dem Amt in Kabul riesig, Hunderte harren vor dem Einlass aus, wollen einen Reisepass beantragen.

Vor dem Passamt wartet auch ein Mann aus der Provinz Kundus. Er ist in die Hauptstadt geflohen, gemeinsam mit seiner Familie. Die radikale Islamisten-Miliz der Taliban, aber auch die afghanischen Regierungstruppen hätten im Kampf um die Metropole ganz im Norden des Landes „keinerlei Rücksicht“ auf Bewohner genommen. „Wir mussten schnell weg“, sagt der Afghane. Mittlerweile lebe er mit seiner Familie in einem Flüchtlingscamp im Norden Kabuls.

Die Bundeswehr ist weg, die Taliban marschieren ein

Kundus, die Provinzhauptstadt, war einst Einsatzgebiet der Bundeswehr. Doch die Truppen sind abgezogen, nicht nur die deutschen, auch alle anderen sind seit Juli aus Afghanistan raus. Seitdem fällt eine Stadt nach der anderen in die Hand der Taliban. Videoaufnahmen zeigen Männer, bewaffnet mit Kalaschnikow, die Militärfahrzeuge der Amerikaner kapern, brennende Häuser und der große Marktplatz in Kundus.

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Die 36 Jahre alte Friba erzählt der Nachrichtenagentur AFP von „willkürlichen Hinrichtungen, Enthauptungen und Entführungen“ durch die Islamisten. „Wir haben Leichen in der Nähe des Gefängnisses auf dem Boden liegen sehen.“ Hunde seien bereits um die Toten gestreift.

In Afghanistan tritt das ein, wovor viele Fachleute mit dem Abzug des westlichen Militärs gewarnt haben: Das Land fällt in einen schweren Bürgerkrieg. „Die Geschwindigkeit, mit der die Taliban zahlreiche afghanische Städte einnehmen ist schockierend“, sagt der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Niels Annen (SPD), unserer Redaktion. Zwar habe Afghanistan in den vergangenen Jahren immer wieder militärische Offensiven durch die Taliban erlebt, die dann ihre Geländegewinne nicht hätten halten können und wieder zurückgedrängt worden seien. Doch Annen sagt: „Jetzt haben wir eine andere Situation: Der überwiegende Teil der internationalen Truppen sind abgezogen und die bisher so wichtige Luftunterstützung bleibt aus.“

Im Fokus nun: Die Auswirkung der Lage auf die deutsche Asylpolitik

Der rasante Siegeszug der Taliban nach dem Rückzug der internationalen Truppen zeige, wie wichtig der Einsatz der deutschen Soldaten vor Ort gewesen sei, hob Annen hervor. „Gemeinsam mit anderen Nationen hat die Bundeswehr für Stabilität im Norden des Landes gesorgt. Die dramatischen Entwicklungen und die Gewalt in Afghanistan sind daher umso bitterer.“

Taliban patrouillieren durch Kundus

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    Im Fokus nun: Die Auswirkungen auf die deutsche Asylpolitik. Die Zahl der Geflüchteten aus Afghanistan in Richtung Europa könnte in den kommenden Monaten stark ansteigen, vermuten Fachleute. „Es ist naiv zu glauben, dass der Vormarsch der Taliban und die Gewalt in der Kriegsregion keine migrationspolitischen Folgen hat. Menschen aus Afghanistan werden noch stärker fliehen müssen als in den vergangenen Jahren“, sagt Staatssekretär Annen.

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    Der junge Zalmay will so schnell wie möglich raus aus Afghanistan. Er wartet ebenfalls vor dem Passamt in Kabul. „Ich brauche einen Pass, um wieder zu flüchten. Ich will wieder nach Europa“, erzählt er. Seinen richtigen Namen will er lieber nicht sagen. Vor wenigen Wochen erst sei er von Österreich nach Afghanistan abgeschoben worden. Zalmay wolle legal in die Türkei einreisen, dann illegal weiter. Sein Ziel: Frankreich oder Italien. Wie viele hier in Kabul hat auch Zalmay kein Geld, um seine Flucht mit Schleusern zu bezahlen oder den Flug in die Türkei. Doch seine Freunde und Verwandte in Europa wollen ihm helfen.

    Vereinte Nationen warnen: 400.000 Afghanen allein im Land auf der Flucht

    Die Vereinten Nationen (Uno) sprechen von 400.000 Menschen, die allein in Afghanistan auf der Flucht sind. Rund 240.000 wurden allein in den vergangenen Monaten aus ihren Heimatorten vertrieben, seitdem feststeht, dass Bundeswehr und Co. abziehen würden. Zudem: Rund 30.000 Menschen fliehen nach Angaben des CDU-Innenexperten Thorsten Frei in Nachbarstaaten, vor allem in den Iran und nach Tadschikistan und Pakistan. Pro Woche.

    Auch Frei beruft sich auf die Uno. Der CDU-Politiker mahnt: „Wir dürfen die Fehler aus dem Syrien-Krieg nicht in Afghanistan wiederholen.“ Damals machten sich syrische Geflüchtete zu Hunderttausenden auf den Weg Richtung Türkei und Europa, weil die Versorgung in den Camps in Libanon und Jordanien zusammengebrochen war. „Die Versorgung der afghanischen Flüchtlinge in der Region muss stehen“, sagte Frei unserer Redaktion.

    Das sieht auch SPD-Politiker Annen so. „Viele Hunderttausende afghanische Flüchtlinge machen sich aber vor allem nach Kabul auf, oder aber in Nachbarstaaten Iran und Pakistan.“ Hier müsse die internationale Gemeinschaft helfen, die Geflüchteten vor Ort in den Nachbarländern und in den sicheren Regionen Afghanistans bestmöglich zu versorgen.

    Viele Afghanen haben bisher keine Chance auf Schutz in Deutschland

    Fachleute rechnen nicht mit einem drastischen Anstieg der Flüchtlingszahlen innerhalb der kommenden Wochen. Dafür ist der Weg vom Hindukusch nach Europa zu weit, die Grenzen für Geflüchtete oft nur unter hoher Gefahr passierbar. Die Pandemie hat die Lage noch erschwert.

    Doch der Trend ist deutlich, schon jetzt: In den ersten sieben Monaten 2021 beantragten gut 11.000 Afghanen Asyl in Deutschland. Mehr als doppelt so viele wie im Vergleichszeitraum 2020. Bisher bekommen nicht einmal die Hälfe aller Afghanen Schutz in Deutschland. Hilfsorganisationen fordern nun die Behörden auf, Menschen aus dem Kriegsgebiet aufzunehmen.

    Aufgenommen hat Deutschland mittlerweile auch mehr als 300 afghanische Ortskräfte und ihre engsten Familienangehörigen, die in den vergangenen zwei Jahren für die Bundeswehr gearbeitet haben. Noch einmal knapp 200 Ortskräfte haben eine Zusage für eine Reise nach Deutschland.

    Hilfsgruppen üben massive Kritik an der Bundesregierung. Sie lasse Helfer in Stich

    Für Hilfsgruppen ist das zu wenig. Sie kritisieren, dass die Bundeswehr Tausende Afghanen zurücklasse, die den Soldaten geholfen hatten, aber nicht in das Aufnahme-Kontingent fallen. Zum Beispiel, weil sie nicht direkt einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abgeschlossen hatten, sondern mit einem deutschen Unternehmen, das für die Bundeswehr arbeitete.

    Was schon jetzt klar ist: Deutschland schiebt bis auf Weiteres keine Afghanen mehr in ihr Heimatland ab. „Ein Rechtsstaat trägt auch Verantwortung dafür, dass Abschiebungen nicht zur Gefahr für die Beteiligten werden“, sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). Die Sicherheitslage vor Ort ändere sich „derzeit so rasant, dass wir dieser Verantwortung weder für die Rückzuführenden, noch für die Begleitkräfte und die Flugzeugbesatzung gerecht werden können“.

    In diesem Jahr schoben die deutschen Behörden bisher knapp 170 Personen nach Kabul ab. Fast alle waren laut Ministerium verurteilte Straftäter. Erst vor ein paar Tagen musste die Bundesregierung einen Abschiebeflug kurzfristig abblasen. Zu riskant war die Landung in Kabul.