Jerusalem/Berlin. 300 Verletzte nach schweren Unruhen auf dem Tempelberg: Jetzt braut sich eine Krise zusammen, die über die Nahost-Region hinausreicht.

Über dem Ostjerusalemer Viertel Scheich Dscharrah liegen Rauchwolken. Am späten Sonnabend schießen israelische Polizisten in Kampfmontur Tränengasgranaten und Gummigeschosse ab. Rettungssirenen heulen auf, Schreie liegen in der Luft. Jugendliche Palästinenser werfen Flaschen, Steine und Brandsätze auf die Sicherheitskräfte. Autos werden angezündet.

Fast jeden Abend kommt es in Jerusalem zu gewaltsamen Ausschreitungen, in der Nacht von Freitag auf Sonnabend werden nach Angaben des Islamischen Halbmondes über 200 protestierende Palästinenser verletzt. Israelische Behörden sprechen von 17 verletzten Polizisten. Am späten Sonnabend werden bei Zusammenstößen rund 90 Menschen verletzt.

Gewalt in Jerusalem: Auslöser sind Zwangsräumungen von Palästinensern

Ein Auslöser der Proteste ist die bevorstehende Zwangsräumung der Wohnungen von 13 palästinensischen Familien aus Scheich Dscharrah. Jüdische Siedler beanspruchen die Häuser. Das Gesetz macht es den Siedlern leicht. Können sie nachweisen, dass die Häuser vor 1948 einmal in jüdischem Besitz waren, geben Gerichte ihnen in der Regel recht.

Siedlerorganisationen suchen gezielt nach Immobilien, bei denen dieser Nachweis zu erbringen ist. Israel hatte während des Sechstagekrieges 1967 das Westjordanland und Ostjerusalem erobert und treibt dort seitdem Siedlungsprojekte voran. Die Palästinenser fordern die Gebiete hingegen für einen eigenen Staat – mit Ostjerusalem als Hauptstadt.

Mit Steinen und Brandsätzen: Palästinensische Demonstranten protestieren in der Jerusalemer Altstadt gegen die Zwangsräumungen.
Mit Steinen und Brandsätzen: Palästinensische Demonstranten protestieren in der Jerusalemer Altstadt gegen die Zwangsräumungen. © AFP | EMMANUEL DUNAND

Das „Nahost-Quartett“ kritisiert die Vertreibung der Familien

Das israelische Außenministerium betont, es handele sich in Scheich Dscharrah um einen „privaten Besitzstreit“, der nun von palästinensischen Führern politisch instrumentalisiert werde. Der zweite Teil dieses Satzes ist richtig. Die in Gaza regierende radikalislamische Hamas tut alles, um den Zorn über die Räumungen für sich zu nutzen.

Nun braut sich auch eine internationale Krise zusammen. „Alarmiert“ zeigen sich die Abgesandten des „Nahost-Quartetts“, das sich aus USA, Russland, der EU und den Vereinten Nationen zusammensetzt. Sie kritisieren die Vertreibung „palästinensischer Familien aus Häusern, in denen sie seit Generationen leben“.

In der arabischen Welt üben die Vereinigten Arabischen Emirate und das Königreich Bahrain Kritik an den Zwangsräumungen. Der jordanische Außenminister warf Israel „ein gefährliches Spiel mit dem Feuer“ vor. Lesen Sie dazu:Wer ist jetzt Freund, wer Feind? Das ist der neue Nahe Osten

Der türkische Präsident Erdogan nennt Israel einen „Terrorstaat“

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bezeichnete Israel als „Terrorstaat“. Das „grausame Israel, der Terrorstaat Israel“ greife „brutal und unmoralisch“ Muslime in Jerusalem an, sagte Erdogan. Er rief die Vereinten Nationen, die Organisation für islamische Zusammenarbeit und weitere internationale Organisationen dazu auf, aktiv zu werden.

Das Weiße Haus verurteilte Gewalt auf israelischer und palästinensischer Seite. Unter den Demokraten mehren sich jedoch Stimmen, die ihre Kritik auf die Zwangsräumungen fokussieren. Harsche Worte fand das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte: Es handele sich möglicherweise um „Kriegsverbrechen“.

Israelische Sicherheitskräfte am Wochenende während einer Demonstration gegen den geplanten Räumungsprozess im Jerusalemer Stadtteil Scheich Dscharrah.
Israelische Sicherheitskräfte am Wochenende während einer Demonstration gegen den geplanten Räumungsprozess im Jerusalemer Stadtteil Scheich Dscharrah. © dpa | Ilia Yefimovich

Das Oberste Gericht Israels entscheidet über die Räumungen

Der aktuelle Streit sollte an diesem Montag auch vor dem Obersten Gerichtshof Israels ausgetragen werden. Die Kammer wollte über eine Petition der 13 von der Räumung bedrohten palästinensischen Familien entscheiden. Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Benny Gantz erwirkten aber in letzter Minute eine Vertagung, da die Lage zu angespannt sei.

Vorerst nicht abgesagt wird hingegen ein Aufmarsch Hunderter jüdischer Jugendlicher an diesem Montag. Sie wollen fahnenschwenkend durch die Altstadt laufen, um der Eroberung Ostjerusalems durch Israel zu gedenken. Vertreter der Jerusalemer Stadtverwaltung geben bereits Warnungen aus: Die Bevölkerung solle die Route an jedem Tag meiden, es sei potenziell lebensgefährlich.

Israels Waffeneinsatz in einer Moschee eint die Muslime

Dass sich die Gewalt in Jerusalem derart hochschaukelt, liegt auch an Bildern, die seit Freitag in sozialen Medien kursieren. Auf Handyvideos sieht man Gläubige in der Al-Aksa-Moschee, die von einer Schallgranate überrascht werden. Der Einsatz staatlicher Waffen in einer Moschee – noch dazu im heiligen Monat Ramadan: Das ist Wasser auf die Mühlen radikaler Israelfeinde. Und ein Affront für Muslime auch außerhalb Palästinas und Israels.

Für Millionen Muslime hat der Ramadan begonnen

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    Für aufgeheizte Stimmung sorgten auch die Fotos von Pilgern, die am Sonnabend auf der Autobahn Richtung Jerusalem marschieren mussten. Zuvor hatte die Polizei ihre Busse gestoppt. Es waren nicht Palästinenser aus dem Westjordanland, sondern arabische Staatsbürger Israels aus Haifa oder Nazareth. Sie hatten es eilig, rechtzeitig bei Sonnenuntergang – also zum Fastenbrechen – in Jerusalem zu sein. Die Busblockade wurde kurz vor Sonnenuntergang aufgehoben.