Berlin. Vakzine gegen das Coronavirus wird es in Deutschland bald genug geben. Aber das reicht nicht. Wir müssen auch unsere Mentalität ändern.

80 Millionen Dosen – und das allein im zweiten Quartal. Na also, beim Impfen wird endlich geklotzt, nicht gekleckert.

Das sind die Nachrichten vom Impfgipfel, die wir gebraucht haben: gute, hoffnungsvolle Nachrichten, die Mut machen. Impfen ist eine positive Erzählung, weil die Kampagne der Wendepunkt in der Corona-Krise sein könnte und weil sich viele Menschen nicht mehr so ohnmächtig fühlen müssen: Sie können was tun. Impfen statt schimpfen. Das ist medizinisch geboten und psychologisch wichtig: als Stimmungsaufheller.

Weil genug Stoff da ist, erledigt sich die Priorisierung. Sie war bislang notwendig, um den schutzbedürftigen Gruppen, aber auch den Ansprüchen eines Sozialstaats gerecht zu werden. Aber: Schon bald nicht mehr notwendig.

Impfquote entscheidet über Verhältnismäßigkeit von Verboten

Diese Klarstellung von Bund und Ländern wird bei der Kampagne für Flexibilität und Tempo sorgen. Wenn sie auf Hoch­touren läuft, würde die Zahl der Geimpften schnell eine kritische Größe erreichen. Kritisch aus dem Grund, weil viele Verbote für sie nicht mehr verhältnismäßig wären: Test- und Quarantänepflichten, Kontaktauflagen. Lesen Sie hier: Corona-Impfgipfel: So war die Pressekonferenz mit Merkel

Miguel Sanches, Politik-Korrespondent.
Miguel Sanches, Politik-Korrespondent. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Diese Gruppe davon auszunehmen, ist erst einmal nur eine Absichtserklärung, noch vage und unverbindlich, aber trotzdem politisch eine wichtige Vorfestlegung. Mehr noch: Nahezu alternativlos und rechtlich zwingend. Geimpften wie auch den Genesenen Auflagen aufzulegen, wäre vor Gericht gescheitert. Es wäre weder rechtlich durchzuhalten noch politisch erklärbar.

Die Frage ist eher, wie lange man die Auflagen für jene Bürger aufrechterhalten kann, die sich nicht impfen lassen wollen. Die Grundrechte gelten auch für sie, für die Impfgegner, für die Skeptiker, für die Vorsichtigen, die noch abwarten. Im Herbst wird sich die Frage womöglich mit neuer Schärfe stellen. Und hier, bei der Frage nach einer drohenden Zwei-Klassen-Gesellschaft, ist die Kanzlerin auch etwas vage geblieben.

In jedem Fall wird es eine heikle Übergangsphase geben. Vieles hängt davon ab, wie groß der Personenkreis der Impfskeptiker sein wird. Vermutlich wird die Gruppe kleiner sein, als alle erwarten. Ein Mitglied der Ethikkommission hat die Ausgangslage mit den Pinguinen auf dem Eisberg verglichen: Sobald die ersten ungefährdet ins Meer gesprungen sind, folgen alle anderen nach. Vor der Herdenimmunität kommt der Herdentrieb.

Unsere Mentalität bremst die Pandemie-Bekämpfung

Rückblickend betrachtet, war das Problem nicht, dass die Bundesregierung sich beim Impfen europäisch eingereiht hat. Die Haltung stimmte, die Handlung eher nicht. Denn im Gegensatz zu den USA haben wir die Impfstoffproduktion unterschätzt. In den nächsten Wochen, erst recht im dritten Quartal dieses Jahres, kommen aber so viele neue Vakzine, so viel mehr Impfstoffe, dass die Quantität nun kein Streitthema mehr ist.

Auch die Qualität der Impfstoffe sollte kein Konfliktstoff bieten. Es gibt Nebenwirkungen, aber die Vorteile der Vakzine überwiegen. Briten und Israelis waren vor allem risikofreudiger. Einige Abstriche von der Vollkasko-Mentalität – und wir wären längst weiter.

Videografik- So wirken Impfungen

weitere Videos

    Mutationen könnten Erfolg der Impfkampagne gefährden

    Es ist legitim, dass jeder Staat an sich selbst denkt. Aber das stößt an Grenzen, weil es uns nur besser geht, wenn es allen besser geht. Ein Beleg dafür ist momentan Indien, wo Mutationen entstehen, die ihrerseits die Impfstrategie weltweit unterlaufen können. Man muss nicht einmal Moral, Gerechtigkeit oder Fairness bemühen. Es ist schlicht kurzsichtig, nur an sich selbst zu denken.

    Es dauerte neun Monate bis zur ersten Million Covid-Tote, vier Monate bis zur zweiten Million und drei Monate, bis es drei Millionen waren. Es hört erst auf, wenn die Herdenimmunität weltweit erreicht ist. Die Herausforderung ist national wie global gleich: mehr Zusammenarbeit, weniger Egoismus.