Berlin. Jan Böhmermann nimmt sich den EU-Grenzschutz vor. Im Fokus: Nicht dokumentierte Treffen zwischen Frontex und der Rüstungsindustrie.

  • Jan Böhmermann hat im "ZDF Magazin Royale" heikle Details über die europäische Grenzschutzagentur Frontex veröffentlicht
  • Offenbar haben sich deren Mitarbeiter immer wieder unkontrolliert mit Lobbyisten der Rüstungsindustrie getroffen
  • Frontex hatte derartige Kontakte zur Waffenlobby jedoch bisher immer abgestritten

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hat zwischen 2017 und 2019 wohl mehrere Treffen mit Vertretern der Rüstungsindustrie und Waffenlobby abgehalten, ohne dies offenzulegen. Das zeigen Recherchen des „ZDF Magazin Royale“ von Jan Böhmermann. Demnach haben die Lobbyisten versucht, massiv Einfluss auf die Ausrichtung der Agentur zu nehmen – teilweise mit Erfolg. Böhmermann wirft Frontex Falschaussagen über diese Kontakte vor.

Noch Ende Januar leugnete die Agentur nämlich gegenüber dem Recherche-Team, überhaupt Kontakte mit Lobbyisten zu pflegen. Die Dokumente, die die Treffen allerdings belegen, haben die Rechercheure und Rechercheurinnen durch Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz der Europäischen Union erhalten. Insgesamt arbeitete sich die Gruppe mit der Unterstützung der NGO „Frag den Staat“ durch 142 Dokumente.

Lobby-Treffen von Frontex: Ein Dinner für 94.000 Euro

Das Ergebnis: Zwischen 2017 und 2019 soll Frontex 16 Lobby-Treffen mit Vertretern der Rüstungsindustrie abgehalten und diese weder transparent gemacht noch zugegeben haben. An den Terminen nahmen laut ZDF-Recherche insgesamt 108 Vertreter von Unternehmen, 15 von Universitäten, zehn von privaten Think Tanks und eine Person von einer Nichtregierungsorganisation teil. Eine Menschenrechtsorganisation wurde wohl nie eingeladen. Für das Dinner bei einem solchen Treffen wurden allein 94.000 Euro ausgegeben, berichtete Jan Böhmermann in seiner ZDF-Sendung.

Problematisch an diesen Treffen ist, dass die Industrie-Meetings wohl zu einem großen Teil nicht offengelegt werden und eine Mehrheit der Lobbyisten nicht im EU-Transparenzregister gelistet sind. Nach Angaben des „ZDF Magazin Royale“ zeigen die „Frontex-Files“, dass allein 2017 58 Prozent der Teilnehmenden nicht registriert waren. In den Treffen 2018 und 2019 waren 72 Prozent der Lobbyisten nicht registriert.

Böhmermann-Recherche: Log Frontex gegenüber EU-Parlamentariern?

Frontex hat diesen Umstand stets negiert. So erwiderte die EU-Grenzschutzagentur 2018 auf die Frage eines EU-Parlamentsabgeordneten: „Frontex trifft sich nur mit Lobbyisten, die im Transparenzregister der EU registriert sind und veröffentlicht jährlich einen Überblick der Treffen auf der Website. 2017 gab es keine solcher Treffen.“ Die Dokumente, die das Team hinter der ZDF-Sendung ausgewertet hat, würden allerdings ein anderes Bild zeichnen. Frontex habe das EU-Parlament belogen, wirft Moderator Böhmermann der Agentur vor.

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2011 wurde in der EU ein Transparenzregister für Lobbyisten eingeführt. So soll für die Bürger transparent gemacht werden, wer auf die EU-Politik Einfluss nimmt. Allerdings ist eine Registrierung in dieser Liste bisher freiwillig. Diese Lücke scheint die Waffenlobby in ihrem bisher geheimen Kontakt mit Frontex wohl ausgenutzt zu haben.

Frontex-Etat explodiert seit Jahren

Denn Frontex ist für die Rüstungsindustrie eine besonders attraktive EU-Behörde: „Frontex ist die am schnellsten wachsende Agentur der Europäischen Union“, heißt es auf der Seite der „Frontex-Files“. Tatsächlich steigt das Budget für den Grenzschutz seit Jahren rasant an. An dem Frontex-Etat der vergangenen Jahre lässt sich leicht ablesen, weshalb Lobbyisten wahrscheinlich hier ihr Glück versuchen:

  • 2005 verfügte die Agentur über 6,2 Millionen Euro
  • 2008 waren es schon über 70 Millionen Euro zuzüglich eines Reserve-Budgets von 13 Millionen Euro
  • 2015 stieg der Etat auf 142 Millionen Euro
  • 2020 verfügte Frontex über 460 Millionen Euro

Seit 2013 steigt das Budget der Agentur kontinuierlich weiter. Im Jahr 2021 soll der Etat der Agentur sogar noch viel höher liegen: 1,6 Milliarden Euro soll Frontex erhalten. Damit können dann auch eigene Schiffe, Autos, Drohnen und Ausrüstung für den Grenzschutz finanziert werden. Seit 2019 hat Frontex ein neues Mandat, bis 2027 soll eine „Stehende Reserve“ mit 10.000 Beamten aufgebaut werden. Das Mandat erlaubt den Besitz und Erwerb von Flugzeugen, Drohnen und Schusswaffen – obwohl es für letzteres keine rechtliche Grundlage gibt.

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Führten unkontrollierte Lobby-Treffen zu EU-Aufträgen?

Kein Wunder, dass sich Vertreter der Rüstungsindustrie für Frontex interessieren, meinen die Macher hinter der ZDF-Recherche. Sie scheinen damit auch Erfolg zu haben: Laut „ZDF Magazin Royale“ gibt es „eine signifikante Überschneidung zwischen Firmen, die direkt bei Frontex lobbyieren und jenen, die von EU-Aufträgen bei der Sicherung des EU-Außengrenzschutzes profitieren.“

Böhmermann erklärte in seiner Sendung, dass zu diesen direkten Profiteuren auch Unternehmen wie Heckler & Koch zählen würden. Hierzu erklärte ein Sprecher der Waffenfirma in einer Mail an diese Redaktion, dass Vertreter der Firma am 8. Dezember 2019 einmalig an einem Industrie-Tag von Frontex teilgenommen hätten. Es habe sich dabei nicht um ein „Lobbytreffen“ gehandelt. Heckler & Koch sei einer Einladung von Frontex gefolgt, weil die Agentur geprüft habe, eine Ausschreibung für die Beschaffung von Pistolen für seine Mitarbeiter vorzunehmen.

Nach dem Meeting folgte, so der Sprecher von Heckler & Koch, allerdings keine Ausschreibung, geschweige denn eine Beschaffung von Pistolen durch die EU-Grenzschutzagentur.

Neben den laut ZDF-Recherche unkontrollierten Treffen mit Lobbyisten soll aus den „Frontex-Files“ auch hervorgehen, dass sich Mitarbeiter bei den Meetings besonders für die digitale Benutzung und Speicherung biometrischer Daten, zum Beispiel Fingerabdrücke oder Gesichter, interessierten. Gesichtserkennungstechnologien sind in der EU umstritten, es gibt zahlreiche datenschutzrechtliche Bedenken. Frontex könnte derartige Produkte verwenden, um beispielsweise Menschen, die die EU-Außengrenze zu überwinden versuchen, ohne deren Wissen zu registrieren.

Ein Frontex-Abzeichen an einer Uniform.
Ein Frontex-Abzeichen an einer Uniform. © dpa | Christian Charisius

„Frontex-Files“: Kritik am EU-Grenzschutz gibt es schon lange

In der Vergangenheit gab es immer wieder Kritik an Frontex vor allem wegen der mutmaßlichen Verletzung von Menschenrechten. So wurden im August 2019 Medienberichte veröffentlicht, wonach Frontex Menschenrechtsverstöße wie Gewaltexzesse an den EU-Außengrenzen durch nationale Grenzbeamte dulde und bei Abschiebeflügen sogar selbst gegen Menschenrechte verstoße.

Zuletzt zeigten Recherchen mehrerer Medien, dass die EU-Grenzschutzagentur an illegalen „Pushbacks“ beteiligt gewesen sein soll. In mehreren Fällen soll sie davon gewusst haben, dass die griechische Küstenwache Flüchtlinge auf dem Mittelmeer abdrängte, anstatt sie an Land zu nehmen. Die EU-Betrugsbekämpfungsbehörde Olaf nahm deshalb Ermittlungen gegen die EU-Agentur auf. Auch wegen eines möglichen Betrugsfalls im Zusammenhang mit einem polnischen IT-Unternehmen wird laut einem „Spiegel“-Bericht derzeit ermittelt.

Auch deutsche Politiker kritisieren Vorgehen an EU-Außengrenzen

Kritik am Vorgehen der EU an ihrer Außengrenze wird auch in der deutschen Politik lauter. Die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, fordert, dass Frontex „neu aufgestellt werden“ müsse. „Es braucht endlich eine bessere parlamentarische Kontrolle“, sagt sie unserer Redaktion. „Die Europäischen Staaten haben Frontex in den vergangenen Jahren mit immer mehr Mitteln und Kompetenzen aufgeblasen, aber auf eine Kontrolle dieser wildwüchsigen Grenzagentur verzichtet.“

Immer wieder gerät auch die Grenze von Bosnien nach Kroatien in den Fokus der Berichterstattung. Mehrere Tausend vor allem geflüchteter Männer, aber auch Familien und Kinder, harren in der Grenzregion Bosniens zum EU-Staat Kroatien aus. Eigene Recherchen vor Ort zeigten schon 2018, dass kroatische Polizisten mutmaßlich Handys von Geflüchteten zerstört hatten und Pushbacks vornahmen. In mehreren Fällen zeigten die Migranten blaue Flecke oder andere Verletzung, mutmaßlich durch Schläge der kroatischen Polizei. Die Regierung des Landes hat diese Vorfälle bestritten.

Göring-Eckardt: Bundesregierung weiß von Rechtsbrüchen

Kritik kommt auch hier von den Grünen: „Die Bundesregierung weiß um die eklatanten Rechtsbrüche auf europäischem Boden, unterstützt diese sogar mit eigenen Mitteln und lässt jedes Schuldbewusstsein missen“, sagte Fraktionschefin Göring-Eckardt.

Eine Anfrage ihrer Fraktion und der Fraktion der Linkspartei im Bundestag zeigt, dass die Bundespolizei auch 2020 mit Fahrzeugen den Grenzschutz der Kroaten unterstützt. Die deutsche Polizei übergab den kroatischen Beamten 20 Fahrzeuge, darunter zehn Toyota-Minibusse sowie zehn Gelände-Fahrzeuge für die kroatische Streifenpolizei. Laut Linken-Anfrage eine Schenkung Deutschlands in Höhe von fast 900 Millionen Euro. Auch an Trainingsprogrammen für Frontex-Beamte in Kroatien ist die Bundespolizei demnach beteiligt.

Schon in den Jahren zuvor unterstützte die Bundespolizei kroatische Grenzbeamte, 2019 mit Wärmebildgeräten zur Überwachung der Grenze bei Nacht. 2015 mit Laptops, Software und Digital-Kameras. Für Göring-Eckardt ist klar: „Die Bundesregierung will, dass Kroatien die Menschen in Not zurückweist. Damit verletzt Deutschland selbst das Völkerrecht.“

Böhmermann-Sendung: Einblick in die Grenzschutz-Praxis der EU

Die „Fantasy-Polizei“ von Frontex, wie Böhmermann sie nennt, setzt sich aus Vertragsbediensteten und Entsandten von Behörden der Mitgliedstaaten zusammen. Darunter sind auch Bundespolizisten. Einer von ihnen, der 2020 für Frontex im Einsatz war, bestätigte in der Sendung anonymisiert, dass die Agentur von den Pushbacks Kenntnis habe. „Es ist ein offenes Geheimnis, dass Menschen ohne Zugang zu Asylverfahren und mit Gewalt zurückgebracht werden“, erklärte er in einem Einspieler. Er habe sich nicht vorstellen können, dass so etwas in einem europäischen Rechtsstaat passieren könne.

Gang und gäbe sei es auch, dass nicht Frontex selbst bei Notfällen auf See eingreife, sondern die libysche Küstenwache alarmiert werde, heißt es in der Sendung. Diese wurde bereits mehrfach verdächtigt, Migranten zu foltern. Der Menschenrechtsanwalt Juan Branco erklärte im „ZDF Magazin Royale“ eine weitere Taktik des EU-Grenzschutzes: Frontex benutze immer häufiger Flugzeuge und Drohnen, um die Grenzen zu überwachen. Dahinter stecke ein einfacher Gedanke: Wer in der Luft ist, könne sich nicht an Rettungsaktionen beteiligen, so Branco.

Böhmermann erklärte am Ende der Sendung, sein Team habe die Recherche veröffentlicht, da ihnen Europa, die Polizei und die Menschenwürde am Herzen liegen würden. Alle Daten sind online frei zugänglich, die Rechercheurinnen Luisa Izuzquiza, Margarida Silva and Myriam Douo veröffentlichten neben den Dokumenten und der Webseite auch einen ausführlichen Bericht zu den Erkenntnissen.

Das "ZDF Magazin Royale" mit Jan Böhmermann wird freitags um 23 Uhr im ZDF ausgestrahlt. Ab 20 Uhr ist die Sendung in der Mediathek des Senders verfügbar. Die gesamten "Frontex-Files" sind unter frontexfiles.eu abrufbar.

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