Berlin/Karlsruhe. Nicht nur „männlich“ und „weiblich“ – nun muss es in Deutschland auch eine dritte Geschlechteroption geben. Doch was ändert sich jetzt?

In den Akten des Standesamts steht „weiblich“. Doch der Mensch, der zu diesem Eintrag gehört, fühlt sich nicht als Frau. Aber auch nicht als Mann. Ein drittes Geschlecht aber kennt das deutsche Recht bislang nicht.

Vanja, 27 Jahre alt, ist deswegen bis vor das Verfassungsgericht gezogen und hat nun Geschichte geschrieben: Die Karlsruher Richter entschieden am Mittwoch, dass neben „weiblich“ oder „männlich“ in Zukunft ein dritter Geschlechtseintrag möglich sein muss.

Drittes Geschlecht – was heißt das?

Derzeit gilt: Kommt ein Kind auf die Welt, wird sein Geschlecht beim Standesamt entweder als „weiblich“ oder „männlich“ eingetragen. Seit 2013 darf der Eintrag auch offen bleiben, wenn eine Zuordnung nicht möglich ist. Eine Änderung des Eintrags ist auch später noch erlaubt. Vanja, wie sich der junge Mensch nennt, der nun in Karlsruhe erfolgreich geklagt hat, reichte das nicht.

Zusammen mit der Bielefelder Anwältin Katrin Niedenthal kämpft er seit Jahren für den Eintrag eines dritten Geschlechts. Es könnte „inter“ oder „divers“ heißen. Die Karlsruher Richter haben noch keinen Begriff vorgegeben, aber dem Gesetzgeber eine Frist gesetzt: Sie halten die bisherigen Regelungen des Personenstandsrechts für grundgesetzwidrig und verlangen eine Neuregelung bis Ende 2018.

Vanja ist intersexuell, also zwischen den Geschlechtern geboren, und wollte damals einen Antrag auf Änderung der Geburtsurkunde beim Standesamt einreichen. Statt weiblich sollte als Geschlecht inter/divers eingetragen werden. Nun beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mit dem Fall.
Vanja ist intersexuell, also zwischen den Geschlechtern geboren, und wollte damals einen Antrag auf Änderung der Geburtsurkunde beim Standesamt einreichen. Statt weiblich sollte als Geschlecht inter/divers eingetragen werden. Nun beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mit dem Fall. © dpa | Peter Steffen

Das zentrale Argument: Menschen, die sich weder als Mann noch als Frau sehen, müssen im geltenden Personenstandsrecht entweder die unzutreffende Zuordnung zu einem der beiden Geschlechter hinnehmen „oder aber einen Eintrag hinnehmen, der den Eindruck erweckt, sie hätten kein Geschlecht“, schreiben die Richter in ihrer Urteilsbegründung. Das heißt: Die Regelung verstößt gegen beides – das Persönlichkeitsrecht und das Diskriminierungsverbot. Das Bundesinnenministerium kündigte an, das Urteil umzusetzen.

Warum hat Vanja geklagt?

Vanja wehrt sich dagegen, auf „Mann“ oder „Frau“ ausweichen zu müssen. Vanja gilt als intersexuell und gehört damit zu den Menschen, die sich genetisch, hormonell oder auch anatomisch nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen lassen.

Viele weisen Merkmale beider Geschlechter auf. Bei Transsexuellen dagegen ist in der Regel das biologische Geschlecht eindeutig, bestimmbar – die Eigenwahrnehmung aber passt nicht dazu. So fühlt sich etwa ein Mensch, der genetisch als Mann gilt, in seiner Persönlichkeit aber als Frau.

In Vanjas Fall fehlte von Geburt an das Chromosom, dass das Geschlecht festlegt: Frauen haben zwei X-Chromosomen, Männer haben XY. Vanja hat nur ein X. Als Teenager erfuhr Vanja davon, weil die Ärzte wissen wollten, warum der Körper des Mädchens kaum weibliche Hormone produzierte. Heute, mit knapp 30 Jahren, trägt der Mensch namens Vanja einen Bart. Er nimmt dafür männliche Hormone ein, wie er kürzlich einem Reporter der Süddeutschen Zeitung erzählte.

Das Karlsruher Urteil sei „eine große Freude“, sagte Vanja am Mittwoch. Es sei ein weiterer Schritt zur Anerkennung. Das Gericht habe deutlich gemacht, „dass es Menschen gibt, die nicht als Mann oder Frau leben, und dass das keine ‘Störung’ ist“. Zwar lasse sich gesellschaftliche Akzeptanz nicht allein durch einen Gerichtsbeschluss erreichen, erklärte Vanja, „aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung.“

Verfassungsgericht fordert "drittes Geschlecht" in Registern

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    Wie reagiert die Politik?

    Bundesfamilienministerin Katarina Barley begrüßte die Karlsruher Entscheidung. „Es verletzt das allgemeine Persönlichkeitsrecht von Menschen, die weder männlich noch weiblich sind, wenn ihr Geschlechtseintrag offen bleibt“, sagte die SPD-Politikerin. Die neue Bundesregierung müsse die Umsetzung zügig angehen.

    Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sagte: „Das Urteil ist ein großer Fortschritt in Richtung Freiheit.“ Und er ergänzte: „Da kann man einfach nur dankbar sein, dass wir in dem Punkt ein so progressives und modernes Bundesverfassungsgericht haben.“

    Die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes würdigte die Entscheidung als „historisch“. Das Gericht habe klargestellt, dass der Schutz vor Diskriminierung wegen des Geschlechts nicht nur für Männer und Frauen gelte, sondern auch für Menschen, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuordneten, sagte Christine Lüders.

    Welche Folgen hat das Urteil im Alltag?

    Die Richter lassen dem Gesetzgeber weitgehend freie Hand, wie er das Urteil umsetzt: Neben der Möglichkeit, eine dritte Geschlechtsbezeichnung einzuführen, könne man in Zukunft auch generell auf einen Geschlechtseintrag beim Standesamt verzichten, schreiben die Richter. Der Deutsche Ethikrat hatte empfohlen, neben „männlich“ und „weiblich“ die Geschlechtseintragung „anderes“ zuzulassen.

    Im Vorfeld der Entscheidung hatten nach Angaben des Gerichts unter anderem die Bundesärztekammer, die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, die Kirchen und die Bundesvereinigung Trans* Stellung genommen. Sie sprachen sich überwiegend für eine dritte Eintragungsmöglichkeit aus.

    Vanja und ihre Mitstreiter hoffen nun, dass das Urteil nicht nur die Praxis der Standesämter ändert. „Wenn man sagt, es gibt drei Geschlechter, dann ist die logische Folge, dass sich auch in anderen Bereichen etwas ändern muss“, sagte Moritz Schmidt, Sprecher von Vanjas Kampagne „Dritte Option“ unserer Redaktion.

    Zum Beispiel: Statt Toiletten und Umkleidekabinen für Frauen und Männer bereit zu stellen, müsste es in Deutschland künftig Frauenbereiche und Unisex-Bereiche in WCs und Umkleiden geben. Mehr noch: Überall dort, wo Bürger heute in Formularen oder Anträgen das Geschlecht ankreuzen sollen, müsste künftig entweder das dritte Geschlecht als Option auftauchen – oder die Frage nach dem Geschlecht ganz gestrichen werden.

    Hinzu kommt: Auch die alte Frage nach der geschlechtergerechten Schreibweise kann durch das Urteil neuen Treibstoff bekommen – wenn sich in offiziellen Reden, Bekanntmachungen oder Stellenausschreibungen nicht nur weibliche und männliche, sondern auch intersexuelle Menschen sprachlich wiederfinden wollen.

    Besonders schwierig, das räumt auch Schmidt ein, wird dabei die Frage nach der korrekten, höflichen Anrede: Wenn „Frau“ und „Herr“ nicht passt, was passt dann? Schmidt weiß es nicht. Nur so viel: „Vanja lässt sich deswegen einfach Vanja nennen.“