Berlin. 18 Millionen Tonnen Lebensmittel landen in Deutschland jedes Jahr im Müll. Junge Unternehmen wollen mit neuen Ideen etwas dagegen tun.

Als Matthias Rother vor einigen Jahren anfing, sich glutenfrei und kohlenhydratarm zu ernähren, kam er auf eine Idee. Wieso nicht Trester, also die Überreste, die beim Entsaften von Obst und Gemüse entstehen, als Mehl verwenden? Das wäre gesund, frei von Gluten und vor allem auch eines: nachhaltig.

Die Trester konnten bis dahin nämlich nicht mehr als Lebensmittel verwendet werden, wurden allenfalls als Tierfutter eingesetzt. Rother bewarb sich mit seiner Idee bei einem Start-up-Wettbewerb seines Arbeitgebers, dem Nahrungsmittelhersteller Hochland, gewann diesen und gründete seine eigene Firma: Beetgold. Das Start-up stellt nun aus Gemüsetrestern gesunde Tortillas her – und rettet gleichzeitig Lebensmittel.

18 Millionen Tonnen Lebensmittel pro Jahr verschwendet

Inzwischen gibt es immer mehr Start-ups, die sich wie Beetgold der Lebensmittelrettung verschrieben haben. Damit widmen sie sich einem großen Problem. Allein in Deutschland werden laut einer Studie der Umweltschutzorganisation WWF rund 18 Millionen Tonnen Nahrungsmittel im Jahr weggeschmissen.

„Gerade beim Thema Treibhausgase spielt die Lebensmittelverschwendung eine große Rolle“, erklärt Thomas Schmidt vom Thünen-Institut für ländliche Räume, Wald und Fischerei. Seit vielen Jahren erforscht er die Auswirkungen. „Wäre die Lebensmittelverschwendung ein Land, käme sie in Bezug auf die CO2-Produktion an dritter Stelle nach den USA und China“, sagt er.

Gut die Hälfte der Abfälle wäre vermeidbar

18 Millionen Tonnen, das entspricht laut dem WWF-Bericht rund einem Drittel des gesamten Nahrungsmittelverbrauchs in Deutschland. Weggeschmissen werden die Lebensmittel dabei entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Während in Haushalten rund 39 Prozent der Verschwendung entstehen, entfallen 61 Prozent auf die Produktion, den Handel und Großverbraucher wie die Gastronomie.

Nicht alles davon hätte auf dem Teller landen können. Einen Teil machen sogenannte unvermeidbare Lebensmittelabfälle aus, zu denen beispielsweise nicht essbare Anteile wie Schalen oder Knochen gehören. Bei mindestens zehn Millionen Tonnen, das heißt bei etwas über der Hälfte, handelt es sich nach Berechnungendes WWF allerdings um grundsätzlich genießbare Lebensmittel. Produkte, die angebaut, gewässert, geerntet und transportiert wurden – ohne dann jemals gegessen zu werden.

Obst und Gemüse erfüllt häufig Normen nicht

Viele Start-ups haben Konzepte zur Verminderung von Lebensmittelverschwendung entwickelt. Während Beetgold die Trester aus der Saftproduktion weiterverarbeitet, widmet sich das junge Münchner Unternehmen Etepetete einem anderen Problem: Ein bedeutender Teil des produzierten Obsts und Gemüses landet nämlich gar nicht erst im Supermarkt – weil es bestimmte Normen nicht erfüllt.

Ist die Karotte zu krumm, die Kartoffel zu groß oder der Kohlkopf zu klein, können die Landwirte die Produkte nicht verkaufen. In Deutschland ist das beispielsweise bei circa 30 Prozent der Möhren und zehn Prozent der Äpfel der Fall. Als die Etepetete-Gründer Georg Lindermair, Christoph Hallhuber und Carsten Wille davon hörten, waren sie entsetzt. Ein befreundeter Landwirt im Münchner Umland zeigte ihnen drei Tonnen Karotten, die er gerade geerntet hatte, für die er nun aber keinen Abnehmer fand. „Das ist nicht nur vollkommen absurd, sondern eine Tatsache, die dringend geändert werden muss“, fanden die Unternehmer.

Etepetete rettet pro Woche 90 Tonnen Obst und Gemüse

Und so gründeten sie im Jahr 2015 ihr Start-up, das mittlerweile von Lindermair und Hallhuber allein geführt wird. Sie bieten krummes Obst und Gemüse in Bioqualität in Boxen als Abo-Modell an. Aufgrund der sich ständig ändernden Verfügbarkeit ist das nicht immer ganz einfach: „Wir müssen stets abwägen, was der Kunde möchte, aber eben auch, welches Gemüse etwa gerade Saison hat“, erklären die Gründer. Doch bei den Kunden und Kundinnen kommt das Konzept gut an. Für 2022 rechnen Lindermair und Hallhuber mit einem Umsatz im zweistelligen Millionenbereich. Und noch viel wichtiger: „Pro Woche retten wir durchschnittlich 90 Tonnen Obst und Gemüse“, sagen die Gründer.

Lebensmittelverschwendung entsteht allerdings nicht nur durch Obst und Gemüse, das die Vorgaben des Handels nicht erfüllt, sondern auch durch Überproduktion. Wie die Gründer von Etepetete konnte sich Alexander Piutti erst gar nicht vorstellen, dass tatsächlich so viele Lebensmittel ungegessen in der Tonne landen. Als er sich intensiver mit dem Thema beschäftigte, stellte der Tech-Unternehmer fest: Das Problem ist noch viel größer als gedacht. „Mein erster Gedanke war, dass es eigentlich eine Art digitale Handelsplattform braucht, quasi einen Sekundärmarkt für überschüssige Lebensmittel“, erzählt Piutti. Diese Plattform schuf der studierte Elektroingenieur mit SPRK.

Produktionssystem auf Effizienz ausgelegt

Das Start-up vermittelt Überschüsse, die entlang der Wertschöpfungskette entstehen, an andere Abnehmer weiter. Dabei setzt Piutti auf künstliche Intelligenz, durch die die Vermittlung zukünftig komplett automatisiert ablaufen soll. Doch der SPRK-Gründer hat noch größere Pläne. „Das Ziel ist, dass die KI irgendwann Überproduktionen in Mustern konkret vorhersagen kann“, sagt er. Langfristig müsse es nicht nur darum gehen, die überschüssigen Lebensmittel weiterzuvermitteln, sondern die Wurzel des Problems zu bekämpfen. „Denn wenn die Überproduktion sinkt, spart das wiederum Ressourcen, es werden Kapazitäten in der Agrarwirtschaft frei und der CO2-Ausstoß wird entsprechend gesenkt“, erklärt Piutti.

Das sieht auch Nachhaltigkeitsexpertin Ulrike Eberle so. Sie leitet unter anderem den Forschungsbereich des Zentrums für Nachhaltige Unternehmensführung der Universität Witten/Herdecke und ist seit 2008 mit der Nachhaltigkeitsberatung corsus – corporate sustainability selbstständig tätig. Die Ursache für die Lebensmittelverschwendung sei das derzeitige System, das vor allem auf Effizienz ausgelegt sei. Das führe beispielsweise dazu, dass für viele Unternehmen die Entsorgung überschüssiger Lebensmittel häufig günstiger sei als die Weiterverarbeitung. „Aus meiner Sicht braucht es eine strukturelle Veränderung im Ernährungssystem“, sagt Eberle.

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Wertschätzung von Lebensmittel muss wieder steigen

Doch bis dahin hält sie die unterschiedlichen Ansätze zur Rettung der Lebensmittel in jedem Fall für folgerichtig. „Jedes Lebensmittel, das nicht weggeworfen, sondern verwertet wird, ist wichtig“, sagt Eberle. „Die Start-ups fokussieren sich genau an den Schwachstellen in der derzeitigen Wertschöpfungskette. Das ist ein sehr guter Ansatz.“ Gleichzeitig würde die Vielzahl an Start-ups und Ideen auch zu Sensibilisierung für Lebensmittelverschwendung führen.

„Wenn man beispielsweise im Einzelhandel immer wieder über gerettete Produkte stolpert, dann trägt das natürlich dazu bei, dass mehr über die Thematik nachgedacht wird“, sagt Eberle. Insgesamt sei es jedoch wichtig, dass sich das Produktionssystem langfristig ändere und auch die Wertschätzung für Lebensmittel und den dahinterstehenden Produktionsaufwand wieder steige, findet die Expertin. Denn nur so könne die Lebensmittelverschwendung langfristig reduziert werden.

Bis 2030 soll Lebensmittelverschwendung deutlich reduziert werden

Neben Beetgold, Etepetete und SPRK gibt es viele weitere Start-ups, die Lebensmittel vor der Tonne retten. Dazu gehören Online-Supermärkte wie Sirplus oder Motatos, Unternehmen wie Rettergut, die aus geretteten Lebensmitteln neue Produkte herstellen, oder Konzepte, die überschüssige Lebensmittel aus der Gastronomie retten, wie das dänische Start-up Too Good To Go.

Auch die abgelöste schwarz-rote Bundesregierung beschloss 2019 eine Strategie zur Reduzierung von Lebensmittelverschwendung: Bis 2030 soll der Anteil weggeworfener Lebensmittel bei Verbrauchern und im Einzelhandel halbiert und auf Produktions- und Transportebene verringert werden. Die Start-ups haben noch mehr vor. SPRK-Gründer Piutti will die gesamte Lieferkette in Berlin in den kommenden drei bis vier Jahren lebensmittelverschwendungsfrei machen.