Ankara. Der Umbau der Türkei zu einem autokratischen Staat löst in Berlin und Brüssel Sorgen aus.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan will nach seinem knappen Sieg beim Verfassungsreferendum schnell Fakten schaffen. Doch die Opposition gibt sich noch lange nicht geschlagen. Am Montagabend demonstrierten einige Tausend Menschen in Istanbul und anderen Städten gegen Erdogan. In Izmir, Antalya und Eskisehir wurden insgesamt 43 Demonstranten festgenommen. Am Dienstag beantragte die größte Oppositionspartei CHP wegen möglicher Manipulationen die Annullierung des Referendums.

Erdogan hält dagegen: Alle Debatten über das Vorhaben seien jetzt beendet, sagte er in Ankara. Der Umbau des Staates zu einem Präsidialsystem, das die Macht bei Erdogan als Staatsoberhaupt konzentrieren würde, soll rasch beginnen. Die Regierung hat bereits die Verlängerung des Ausnahmezustands bis zum Sommer beschlossen. Wichtige Posten in der Justiz werden zügig neu besetzt, das Wahlrecht geändert. Die Wiedereinführung der Todesstrafe hat Erdogan ebenfalls ins Gespräch gebracht. Die Besorgnis in Deutschland und der EU ist groß, die Debatte über mögliche Reaktionen ist in vollem Gang – vom Ende der Beitrittsverhandlungen bis zum Entzug von Doppel-Staatsangehörigkeiten. Was können Berlin und Brüssel tun? Und was ist wirklich sinnvoll?

Prüfung von Wahlmanipulation

Die Vorwürfe der Wahlbeobachter wiegen schwer: Europarat und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) berichten von Unregelmäßigkeiten und beklagen eine Behinderung von Gegnern des Referendums. Die Abstimmung habe nicht internationalen Standards entsprochen, auch wenn es keine Hinweise auf Betrug gebe. Die Bundesregierung fordert eine Klärung der Vorwürfe, schließlich ist die Türkei Mitglied in beiden Organisationen. Auch die EU-Kommission fordert eine „transparente Untersuchung“.

Erdogan weist die Kritik zurück, lehnt eine Untersuchung ab. Aber: Die Opposition, die eine Annullierung der Wahl verlangt, will notfalls vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen – solange die Türkei Mitglied im Europarat ist, wäre ein Urteil für sie bindend.

EU-Beitrittsgespräche stoppen

Die Forderung nach einem Ende der 2005 begonnenen Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei wird lauter. „Eine EU-Mitgliedschaft ist vom Tisch“, meint etwa der Chef der konservativen EVP-Fraktion im EU-Parlament, Manfred Weber (CSU). Österreichs Außenminister Sebastian Kurz forderte ebenfalls den Verhandlungsabbruch.

Das Ende naht tatsächlich, dürfte sich aber hinziehen: Die EU-Kommission und die Bundesregierung wollen auf keinen Fall selbst die Tür zuschlagen. Das würde der Opposition in der Türkei kaum helfen, wäre für Erdogan ein Propaganda-Erfolg – und könnte die Türkei weiter in die Arme Russlands treiben.

Also wird nun taktiert: Dass eine von Erdogan regierte Türkei EU-Mitglied wird, schließt man in Berlin und Brüssel aus – aber es soll Erdogan überlassen bleiben, die Stopptaste zu drücken. Allerdings zeichnet sich ab, dass die Finanzhilfen der EU an die Türkei für die Beitrittsvorbereitungen weiter reduziert oder ganz gestoppt werden. Klar ist auch: Die Wiedereinführung der Todesstrafe, wie sie Erdogan jetzt wohl forciert, wäre für die EU das endgültige Aus der Beitrittsgespräche – „die roteste aller Linien“, wie die EU-Kommission am Dienstag erklärte.

Erdogan gibt sich unbeeindruckt: Sollte die EU die Gespräche beenden, sei das nicht weiter schlimm, „solange sie uns darüber informieren“. Wenn nötig, werde die Türkei ein Referendum zur EU-Mitgliedschaft abhalten. Sollte Erdogan auch über die Todesstrafe eine Volksabstimmung abhalten wollen, fordern die Grünen, die Teilnahme von Türken in Deutschland zu unterbinden.

Flüchtlingsabkommen kündigen

Unrealistisch. Denn von dem Abkommen profitieren beide Seiten: Die EU durch die Verringerung der Flüchtlingszahlen. Und die Türkei durch die finanzielle Unterstützung in Höhe von sechs Milliarden Euro bis 2018.

Ende der Nato-Mitgliedschaft

Auch wenn die Türkei sich zu einem autoritären Staat entwickeln sollte, ist ein Rauswurf aus der Nato kaum denkbar. Selbst in Zeiten der Militärdiktatur Anfang der 80er-Jahre blieb die Türkei Mitglied im Bündnis, um sie nicht in die Hände der Sowjetunion zu treiben. Heute stellt die Türkei die zweitstärkste Nato-Armee, sie gilt an der Schnittstelle zwischen Europa, Asien und Nahost als unverzichtbarer Partner – mit einer Schlüsselrolle vor allem im Syrien-Konflikt. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) stellt deshalb schon klar, dass eine Türkei außerhalb der Nato nicht einfacher im Umgang sein würde als heute.

Integration der Türken in Deutschland verbessern

In der Türkei stimmten 51,4 Prozent für die Verfassungsänderung, in Deutschland aber 63 Prozent. Die deutsche Politik zeigt sich alarmiert, fordert eine Debatte über die Ursachen und neue Anstrengungen zur Integration. NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) warnt schon vor einer Spaltung der türkischen Gemeinschaft, sie sieht eine „Belastung des Integrationsprozesses“. Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, sieht das Ergebnis auch als Protest: Viele Türken fühlten sich in Deutschland diskriminiert und ausgegrenzt, Erdogan habe das geschickt ausgenutzt. Allerdings beschreibt das eine Minderheit: Von den 1,5 Millionen wahlberechtigten türkischen Staatsangehörigen in Deutschland stimmten nur etwa 400 000 für Erdogan. Über die Hälfte nahm nicht an der Abstimmung teil. Insgesamt haben drei Millionen Menschen in Deutschland türkische Wurzeln.

Doppelpässe begrenzen

Vor allem CSU-Politiker fordern strengere Regeln für den Doppelpass. Erleichterungen für die doppelte Staatsangehörigkeit müssten wieder rückgängig gemacht werden, sagt Unions-Innenpolitiker Stephan Mayer (CSU). Mindestens Kindern von Doppelstaatlern müsse die deutsche Staatsbürgerschaft wieder entzogen werden können, wenn sie keinen Bezug zu Deutschland hätten. Nach Schätzungen haben 530 000 Türken auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Wollen Türken bei der Einbürgerung ihren türkischen Pass behalten, müssen sie nachweisen, dass ihnen andernfalls unzumutbare Nachteile in der Türkei entstünden. Die Bundesregierung sieht keinen Handlungsbedarf.