Braunschweig. Die Debatte über die Motive, aber auch den Einfluss der türkischen Wähler aus Deutschland nimmt Fahrt auf.

Ein Gast bringt auf unseren Internetseiten folgendes Argument in die Debatte ein:

Für viele Deutsch-Türken war das Referendum die Möglichkeit, diesem Deutschland, das Migranten niemals als Deutsche akzeptieren wird, den Stinkefinger zu zeigen. Danke, Petry und Co.!

Zu dem Thema recherchierte Dirk Breyvogel

Es ist eine steile These, die der Leser hinsichtlich der großen Zustimmung der Türken in Deutschland zu einer neuen Verfassung in ihrer Heimat aufstellt. Allerdings: Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) in Essen hält Schlagzeilen wie: „Deutsch-Türken verhelfen Erdogan zum Sieg“ für mindestens übertrieben. Seine Analyse der Abstimmung ist eine andere. „Der Anteil, der von Türken im Ausland abgegebenen Stimmen an allen abgegebenen Ja-Stimmen beträgt 0,23 Prozent. Ohne diese Stimmen hätte das Lager, das den Kurs von Erdogan unterstützt hat, auch mehr als 51 Prozent bekommen und damit die Mehrheit.“ Dieser minimale Einfluss auf das Endergebnis zeige, dass es sich bei dem Streit um die Rolle der Türken in Deutschland um eine „künstliche Debatte“ gehandelt hätte. „Die hat bei der Wahl allein Präsident Erdogan geholfen, und wir sind darauf hereingefallen“, ist Ulusoy überzeugt.

Unter den Türken in Belgien war die Zustimmung zur Verfassungsreform besonders hoch, in Tschechien lehnten besonders viele die Reform ab.
Unter den Türken in Belgien war die Zustimmung zur Verfassungsreform besonders hoch, in Tschechien lehnten besonders viele die Reform ab.

Ulusoy steht mit seiner Einschätzung, was den Einfluss der Türkeistämmigen angeht, nicht allein. Ruprecht Polenz (CDU), zwischen 2005 und 2013 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, macht das in der Debatte deutlich. Von den in Deutschland lebenden rund 3,5 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln hätten am Ende nur 13 Prozent für die Verfassungsänderung gestimmt, betont Polenz. Wobei man hinzufügen muss, dass nicht 3,5, sondern nur 1,4 Millionen dieser Menschen überhaupt abstimmen durften.

Laut Polenz belegt diese Rechnung, dass die Mehrheit der Türken in Deutschland entweder mit Nein gestimmt hat oder eben gar nicht. Polenz kritisiert in dem Zusammenhang, dass nun alle Türken in Deutschland unter dem Generalverdacht stünden, sich nicht integrieren zu wollen.

In Niedersachsen war die Wahlbeteiligung nach Angaben der Türkischen Gemeinde (TGN) leicht unterdurchschnittlich. Bundesweit hatten rund 46 Prozent von ihrem Recht Gebrauch gemacht, über die künftige Verfassung in ihrer Heimat abzustimmen. Ebenfalls unterdurchschnittlich war mit 58,6 Prozent die Zustimmung zur neuen Verfassung. Die meiste Zustimmung erhielt Erdogans Kurs im Ruhrgebiet, die wenigste in Berlin.

Wissenschaftler Ulusoy nennt die beiden entscheidenden Faktoren: „Die soziokulturelle Zusammensetzung der Menschen, die dort leben, ist eine andere.“ Er nennt die Zuwanderung aus dem Bergbau und der Landwirtschaft der „Gastarbeiter“-Generation in das Ruhrgebiet als einen Grund dafür, dass hier der konservativ-religiöse Kurs der AKP mehr Anklang gefunden hatte als in Gegenden, in denen eher säkular-geprägte Milieus leben. „Das Ruhrgebiet ist zudem eine Urbanisierungseinheit. Hier kann die AKP, die die einzige Volkspartei in der Türkei ist, mit ihren finanziellen Möglichkeiten bei der Mobilisierung der Wähler besser durchdringen.“ Die Parteien des linken Spektrums in der Türkei seien schlechter aufgestellt, auch weil sie uneinheitlicher agieren würden, so Ulusoy.

Osman Timur, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Niedersachsen, empfindet die Debatte, die in Deutschland geführt wird, in Teilen als „unschön“. Diese zeige eine Form von Doppelmoral. „Wir können nicht auf der einen Seite sagen, dass in der Türkei die Meinungsfreiheit abgeschafft wird und auf der anderen Seite die Entscheidung der Türken mit dem gleichen Hinweis kritisieren. Die Türken, die in Deutschland für die Verfassungsreform gestimmt haben, sind der festen Überzeugung, dass dieser Weg der beste für eine stabile politische und wirtschaftliche Entwicklung der Türkei ist“, erklärt Timur die Wahlmotive.

Die Menschen seien fest überzeugt, dass ihre Wahl die Demokratie stärke und nicht abschaffe. Auch, wenn es viele europäisch orientierte Kräfte in der Türkei gebe, dürfe man das Land nicht mit Deutschland vergleichen. „Wir hatten, was die politische Stabilität betraf, über Jahrzehnte italienische Verhältnisse. Nur in den 80er Jahren, als Turgut Özal regierte, und jetzt unter Erdogan gab und gibt es eine Form von politischer Konstanz, nachdem sich viele Menschen auch sehnen.“

Der Streit um die Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Europa habe Erdogan am Ende mehr genützt, als das er ihm geschadet hätte. „Er konnte sich als Opfer darstellen. In den Ländern, in denen diese Diskussion mit sehr viel Schärfe geführt wurde, hat die AKP von dieser Entwicklung profitiert.“ Timur verweist auf die Ergebnisse der Wahl in den Niederlanden, wo 71 Prozent einer Verfassungsreform zugestimmt hätten.

Forderungen, die EU-Beitrittverhandlungen mit der Türkei auszusetzen, hält der TGN-Vorsitzende für verspätet. Schon vor dem Referendum hätte die EU klar machen müssen, an welchen Punkten das künftige präsidiale System der Türkei den Werten der Gemeinschaft widerspreche. Dass jetzt zu machen, zeige die ganze Scheinheiligkeit der Diskussion. „Mir hat noch keiner sagen können, welche Macht der türkische Präsident künftig hat, die der US-Präsident nicht heute schon hat.“

Dincer Dinc, SPD-Politiker aus Salzgitter, hat bei Facebook nach dem Referendum in der Türkei seiner Wut über das Ergebnis Luft gemacht. Das Abstimmungsverhalten der in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürger nennt er im Gespräch mit unserer Zeitung „beschämend“.

„Die meisten, die hier leben, wissen gar nicht unter welchen Repressalien die Menschen dort leben, seit Erdogan seine Macht immer weiter ausgebaut hat. Der Zustand des Staates ist marode, weil die Wahlgeschenke Erdogans an seine Anhänger und die regierende AKP viel Geld gekostet haben. Hier beschweren sie sich, wenn ihnen das Kindergeld oder Hartz IV gestrichen wird. Gleichzeitig wählen sie einen Menschen, der seine Ideologie über die aller anderen stellt.“

Dinc ist enttäuscht, dass die Mehrheit der Wahlberechtigten für die Verfassungsänderung hin zu einem Präsidialsystem gestimmt haben. Doch das Ergebnis macht ihm gleichzeitig auch Mut. „Die AKP und die nationalistische MHP verfügen über ein Stimmenpotenzial von mehr als 60 Prozent. Erhalten haben sie aber nur knapp 50 Prozent. Und das, obwohl dieser Mann die Macht über die meisten Medienunternehmen in der Türkei hat.“ Für Dinc, der die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, ein Zeichen der „Götterdämmerung“. „Diese Wahl ist der Anfang des Endes der Ära Erdogan.“

Auf Facebook schreibt Dinc: „Lasst sie feiern, lasst sie als Gewinner vor Freude torkeln! Gratulation meinerseits! Das gestrige Referendum hat eins ganz klar gezeigt. Selbst, wenn es die letzten Atemzüge der freien Demokratie sind: Ob mit oder ohne Manipulation: die AKP und Erdogan haben gesiegt und doch verloren! Warum? Ganz einfach. Die Menschen haben erhobenen Hauptes die Fahne des Mutes geschwenkt. Sie sind noch da, sie leben noch – schreibt die Türkei nicht ab!“

Hoffnung, dass die angestrebte Reform des Staatswesens durch außen oder durch innen noch verhindert werden kann, hat der Salzgitteraner aber nicht. „Das wird jetzt durchgezogen. Aber, wenn die Opposition in der Türkei es schafft, aufbauend auf diesem guten Ergebnis, einen charismatischen Gegenkandidaten für die Präsidentschaftswahl 2019 aufzustellen, habe ich noch Hoffnung auf eine Türkei, die nach Demokratie und Freiheit strebt.“