Braunschweig. Lehrer stehen islamistischer Hetze oft hilflos gegenüber. Experten fordern, mehr in die Prävention an Schulen zu investieren.

Unser Leser Robert To fragt auf unserer Facebook-Seite:

Wie und womit wappnen sich Erzieher und Lehrer?

Die Antwort recherchierte Katrin Schiebold

In der Klasse war Stephen aufgefallen, weil er ständig Widerworte hatte und sich nichts sagen ließ. Doch dann veränderte sich der Achtklässler. Lammfromm und höflich sei er geworden, sagt sein Lehrer. Auf einmal nannte er sich Bilal, trug einen Kaftan, das traditionelle muslimische Gewand. „Er wollte unentwegt über den Nahostkonflikt sprechen.“ Hin und wieder warteten Männer mit Bärten vor dem Schultor auf ihn.

Die Geschichte von Stephen alias Bilal steht in einer Veröffentlichung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft; sie steht exemplarisch für Jugendliche, die sich radikalisieren, sich dem Salafismus zuwenden. Sie soll Lehrer auf das Problem aufmerksam machen. Wer sind diese Jugendlichen, die sich einer extremistischen Ideologie zuwenden? Wie geht man mit einem Phänomen um, von dem Experten sagen, es handele sich um eine radikale Jugendsubkultur, eine neue Form der Protest-Bewegung?

„Die Anfragen von Lehrern bei uns sind gestiegen“, bestätigt Christian Hantel, Leiter der Beratungsstelle gegen salafistische Radikalisierung in Hannover. Aus ganz Niedersachsen wenden sich Pädagogen an die acht Mitarbeiter, aus den Ballungszentren Braunschweig und Wolfsburg ebenso wie aus den ländlichen Regionen des Landes. Sie sind verunsichert, weil sich ein Schüler zurückzieht, sich plötzlich ganz anders verhält, sich abfällig gegenüber Andersgläubigen äußert oder auffällig Sympathie für terroristisches Handeln zeigt. „Nicht immer muss eine Radikalisierung dahinter stecken“, sagt Hantel. Doch zusammen könne man untersuchen, wie ernst die Entwicklung sei und wie man in dem entsprechenden Fall vorgehen sollte.

Das Thema ist sensibel; viele Lehrer fürchten ein negatives Image für die Schule, wenn sie offen über derartige Probleme berichten. Nur selten gelangen Fälle wie der an einer Grundschule in Neu-Ulm an die Öffentlichkeit. Vor zwei Jahren hatten Viertklässler dort gegen Andersgläubige gehetzt. „Christen muss man töten“, sollen sie gesagt haben. „Juden stehen auf einer Stufe mit Schweinen.“ Die Schulleitung wandte sich an die Polizei, die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen des Verdachts auf Volksverhetzung, das Verfahren wurde eingestellt. Die Kinder waren nicht strafmündig und die vermeintlichen Einflüsterer der Sprüche konnten nicht herausgefunden werden.

In Hamburg verschickte das Landesinstitut für Lehrerbildung schon 2014 einen Vermerk „Religiös gefärbte Konfliktlagen an Hamburger Schulen“. „In einzelnen Konfliktfällen wird bei Schülern, aber auch Eltern eine salafistische Orientierung bzw. Beeinflussung erkennbar“, heißt es darin. In einer Schule etwa seien auf eine Jahrgangsreise mehr als zehn Prozent der Schüler nicht mitgefahren. Schulleitungen mehrerer Grundschulen berichteten außerdem von einem Tanz- und Spielverbot orthodox-muslimischer Eltern für ihre Kinder sowie von salafistischer Propaganda in den Freundschaftsbüchern. An einer Schule hatten Schüler zu einem Gruppengebet an einem beliebten zentralen Ort aufgerufen, um öffentliche Aufmerksamkeit auf ihre Religionspraxis zu lenken.

In Frankfurt warnte der Leiter des Staatsschutzes, Wolfgang Trusheim, unlängst vor dem Phänomen salafistischer „Hass-Kinder“. Er rechne mit einer neuen Generation gewaltbereiter Salafisten, die von Eltern bereits in jungen Jahren zum Hass auf Andersgläubige erzogen würden. In der Schule fielen diese Kinder dadurch auf, dass sie islamistische Terrorkämpfer malten oder als Berufswunsch „Dschihadist“ angäben. Zwar handele es sich noch um Einzelfälle. Doch weil salafistische Paare gemäß ihrer Ideologie viele Kinder wünschten, werde das Problem künftig zunehmen.

Tatsächlich betreut die Beratungsstelle gegen Radikalisierung in Hannover landesweit bereits Fälle, in denen es um Fünfjährige geht. Leiter Christian Hantel hatte im März in einem Gespräch mit unserer Zeitung von Problemen in Kindergärten berichtet: „Erzieherinnen melden sich, weil ein kleines Mädchen vollverschleiert in die Einrichtung kommt oder sich weigert, gemeinsam mit anderen zu singen und zu tanzen.“

Auch der niedersächsische Verfassungsschutz spricht in seinem jüngsten Bericht von einem „Phänomen von zunehmender Bedeutung“. Durch die beständig anwachsende salafistische Szene in Deutschland wachse ebenso die entsprechende Lehrinfrastruktur. Islamunterricht salafistischer Prägung in Moscheen oder durch Einzelpersonen stehe für Kinder und Jugendliche in immer mehr deutschen Städten zur Verfügung. Daneben sei der Einfluss salafistischer Erziehung in den Familien selbst nicht zu unterschätzen.

Laut Michael Kiefer vom Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück müsse man den Blick aber primär auf jene Kinder richten, die man nicht „auf dem Radar“ habe. „Vor allem Kinder aus religionsfernen Familien sind gefährdet; ein Gros derjenigen, die sich radikalisieren, sind religiöse Analphabeten.“ Das erkläre auch den hohen Anteil an Konvertiten in dem salafistischen Milieu. Es sind oft Kinder und Jugendliche mit Brüchen in der Biografie, mit fehlenden Perspektiven oder Konflikten in der Familie.

Sicherheitsbehörden und Wissenschaftler wie Kiefer beobachten zunehmend, dass salafistische Netzwerke gezielt Kinder anwerben. „Maßgeblicher Faktor sind dabei Freunde“, heißt es im niedersächsischen Verfassungsschutzbericht. Dies werde auch an dem Beispiel der Wolfsburger deutlich, die nach Syrien oder den Irak ausgereist sind, um sich der Terrororganisation „Islamischer Staat“ anzuschließen. Dort hätten sich mehrere junge Menschen zusammengefunden, die sich schon länger kannten und mit der dschihadistischen Ideologie befassten. Des Weiteren spielen aber auch die Angebote salafistischer Gruppierungen eine wesentliche Rolle: Moscheen, Islamseminare und Koranverteilungen. Als einer der zentralen salafistischen Anlaufpunkte in Niedersachsen gilt die Moschee der Deutschsprachigen Muslimischen Gemeinschaft (DMG) in Braunschweig.

Vor allem aber werden Jugendliche über das Internet geködert. Salafisten-Prediger wie Pierre Vogel haben in der Szene Kult-Status und verbreiten ihre Botschaften vor allem über Online-Videos. „Deswegen muss dringend auch das Medienverhalten von Kindern und Jugendlichen problematisiert werden“, fordert Kiefer. „Das ist bislang noch eine große Baustelle.“

Auch vor diesem Hintergrund kritisiert der Wissenschaftler, dass das Thema Prävention an Schulen in der Politik bislang stiefmütterlich behandelt wurde. Es gibt zwar einzelne Projekte. So hat das internationale „Counter Extremism Project“ einen Leitfaden für Lehrer entwickelt, die sich mit islamistischen Schülern auseinandersetzen müssen. Auch die Beratungsstelle gegen Radikalisierung in Hannover hilft bei solchen Fällen weiter. „Doch die Mitarbeiter können nicht in Braunschweig vor Ort sein“, sagt Kiefer.

„Prävention muss konzeptionell von oben nach unten organisiert werden“, fordert der Islamwissenschaftler. Es müssten Tätigkeitsfelder beschrieben und Menschen bestimmt werden, die für die Umsetzung zuständig sind. Und schließlich müssten die Akteure geschult werden, damit sie Phänomene der Radikalisierung erkennen und angemessen darauf reagieren könnten. „Wir brauchen mehr personelle Ressourcen, vor allem an den großen Schulen und berufsbildenden Zentren.“ Nur mit einer guten Präventionsarbeit an den Schulen bestehe die Chance, dass eine neue Generation von Akteuren verhindert wird.