Wolfsburg. Wolfsburgs Stadträtin Iris Bothe erläutert im Interview die zahlreichen Präventionsangebote der Stadt.

Die Islamistenszene in der Region Braunschweig/Wolfsburg steht im Visier der Ermittlungsbehörden. Seit 2013 reisten 18 Wolfsburger in die Bürgerkriegsgebiete im Syrien und Irak aus – der Großteil soll sich der IS-Terrormiliz angeschlossen haben. Für die Stadt, die mit Hilfe von tausenden Gastarbeitern aufgebaut wurde und stets ihre Weltoffenheit betont, stellen Gotteskrieger und ihre Sympathisanten eine Herausforderung dar. Unser Redakteur Hendrik Rasehorn sprach darüber mit der Wolfsburger Stadträtin für Jugend, Bildung und Integration, Iris Bothe. In ihrem Dezernat wird auch die Präventionsarbeit organisiert.

Wann haben Sie davon erfahren, dass Wolfsburger in Syrien/Irak für einen Gottesstaat kämpfen?

„Wir haben eine Werteordnung in Deutschland, die wir hier auch gelebt wissen wollen.“
„Wir haben eine Werteordnung in Deutschland, die wir hier auch gelebt wissen wollen.“ © Iris Bothe, Wolfsburger Stadträtin für Jugend, Bildung und Integration

Im Sommer 2014 fragte mich eine Bekannte, ob ich wüsste, dass es in Wolfsburg im starken Maße Anwerbeaktionen gebe und jungen Leuten Geld geboten werde, um in Syrien und im Irak im Bürgerkrieg zu kämpfen. Sie kannte einen konkreten Fall aus ihrem Bekanntenkreis. In der gleichen Woche meldeten sich dann auch betroffene Familien beim Integrationsreferat der Stadt.

Sind Ihnen aus Ihrer Arbeit mit Jugendlichen einige der Dschihadisten bekannt?

Ich will einem Missverständnis vorbeugen: Die Stadtverwaltung ist keine Strafverfolgungsbehörde. Sie führt und besitzt keine Listen von Personen, die sich radikalisiert haben oder nach Syrien und in den Irak gegangen sind. Bei einigen, von denen wir es jetzt im Nachhinein wissen, handelt es sich um Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebenswegen. Einige von ihnen kenne ich tatsächlich aus der Zeit, als ich noch Stadtjugendpflegerin war. Einige von diesen Jugendlichen waren damals auffällig und kamen mit dem Gesetz in Konflikt. Manche haben sich wieder gefangen, andere sind weiter abgedriftet. Und von denen sind einige offenbar nach Syrien oder in den Irak gegangen.

Zu den Wolfsburger Dschihadisten zählen aber nicht nur Verlierer der Gesellschaft, richtig?

Die Familien einiger Verdächtiger sind sehr gut in dieser Stadt etabliert. Ihre Kinder haben ausgesprochen gute Schulabschlüsse, studieren oder machen eine Ausbildung. Unerwartet entwickelt ein Kind, meistens ein Sohn, der bisher ausgesprochen unreligiös war, eine fanatische Religiosität, gleitet in den Extremismus ab und entzieht sich seinen Eltern. Die Eltern sind verzweifelt und haben oft keine Chance, an ihr Kind heranzukommen.

Haben Sie eine Erklärung, wie es dazu kommen konnte?

Jeden Fall müssen wir individuell betrachten. Außerdem ist immer noch wenig bekannt über die Anwerber – vor allem darüber, wie sie genau arbeiten. Die Radikalisierung dieser jungen Menschen läuft in einer rasanten Geschwindigkeit ab. Der IS und salafistische Prediger verpacken fanatischen Gedanken in eine geschickte Marketingstrategie und nutzen dafür das Internet – das spielt vermutlich eine wesentliche Rolle bei der Anwerbung.

Im Fall vieler Betroffenen hat es vermutlich wesentlich mit persönlicher Anerkennung zu tun, die sie über die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe erhalten. Salafismus erfüllt hier auch in Teilen das Phänomen einer Jugendkultur. Auf junge Menschen, die sich ausgegrenzt fühlen und nach Sinn suchen, können salafistische Netzwerke eine besondere Anziehungskraft ausüben. Treffen sich diese Jugendlichen in einer solchen Gruppe – auch im Internet –, stärkt das ihr Selbstwertgefühl und verwandelt das Gefühl von Ohnmacht in ein Machtgefühl. Die Mittel von anderen Menschen, diese radikalisierten Jugendlichen von ihrem Weg abzuhalten, sind leider begrenzt.

2011 entzog die Stadt vier jungen Männern, die in ein Terrorcamp in den Jemen reisen wollten, ihre Reisepässe. Kann die Verwaltung von diesem Mittel nicht öfter Gebrauch machen, um den Terror-Tourismus zu unterbinden?

In unserem Rechtsstaat muss eine Passentziehung eine beweisbare und gerichtsfeste Grundlage haben. Und diese Maßnahme ist meiner Meinung nach größtenteils auch nicht erfolgversprechend. Diese Personen sind zwar Deutsche, aber sie besitzen oft die doppelte Staatsbürgerschaft und damit einen zweiten Pass. Wir leben in der EU. Es ist kein Problem bis in die Türkei zu reisen. Und Deutschland ist ein Rechtsstaat. Wenn jemand angibt, er will in der Türkei Urlaub machen, können wir nicht einfach behaupten: Du willst nach Syrien zum IS gehen. Man muss es auch deutlich sagen: Eine Kommune ist in erster Linie beim Thema Prävention gefordert – alles andere ist zuallererst Aufgabe der Sicherheitsbehörden.

Wie kooperiert der Verfassungsschutz mit der Stadt?

Die Möglichkeit eines Informationsaustausches ist für jede Ermittlungsbehörde natürlich immer sehr beschränkt. Aber ich betone, dass wir wirklich eine gute Zusammenarbeit entwickelt haben. Schon nach dem Sommer – also unmittelbar, nachdem wir erfahren hatten, dass es in Wolfsburg eine eher kleine salafistisch-dschihadistische Jugendszene gibt, starteten wir gemeinsam die ersten Fortbildungen für Lehrer und Sozialpädagogen. Diese führen wir in diesem Jahr fort. Wir werden allen Schulen die Angebote und Fortbildungen anbieten, die auf die spezifische Situation in der Schule abheben.

Welche Rückmeldungen bekommen Sie aus den Schulen, wie die Jugendlichen über die Dschihadisten reden?

Die meisten, die nach Syrien gegangen sind, waren ja keine Schüler mehr. Aber das ändert nichts daran, dass das bei einigen jungen Leuten ein populäres Gesprächsthema ist. Das hat auch damit zu tun, dass dieses Thema im Internet so präsent ist.

Müsste den Lehrern in Fortbildungen nicht zunächst ein ethisch-religiöses Fundament für den Islam vermittelt werden, ehe man sie in Präventionsarbeit schult?

Das ist weniger eine religiöse Frage. Für Lehrerinnen und Lehrer ist es wichtiger zu wissen, dass die Hinwendung zum Salafismus ein Ruf nach Aufmerksamkeit ist und ein Protest gegen die eigenen Lebensbedingungen oder die politischen Entwicklungen insbesondere in der muslimischen Welt. Statt einer Scheu vor der Auseinandersetzung – aus Sorge, man könne religiöse Gefühle verletzen oder aus Unkenntnis Grenzen übertreten –, ist es wichtig, sprachfähig zu sein, um einen jungen Menschen dazu zu bringen, seine eigenen Grundideen, die er verfolgt, zu reflektieren. Wir haben eine Werteordnung in Deutschland, die wir hier auch gelebt wissen wollen. Hier ist die Qualifizierung und Sensibilisierung von Lehrkräften und Pädagogen notwendig. Es ist immer eine Herausforderung, an junge Menschen, die sich radikalisieren, heranzukommen. Das gilt für jede Form von Extremismus. Umso wichtiger ist es, immer wieder Gesprächsangebote zu machen.

Wir dürfen bei der Debatte aber auch nicht die Relation aus den Augen verlieren: Wir sprechen in Wolfsburg von bis zu 50 IS-Sympathisanten – bei insgesamt rund 15 000 Schülern.

Seit Februar gibt es bei der Stadt die Dialogstelle Jugendschutz. Wie kam es dazu?

Die gesamte Entwicklung verlief in Wolfsburg – genauso wie in ganz Deutschland – relativ schnell. Über das Integrationsreferat konnten wir Familien, die sich bei uns meldeten, auch beraten und weiterleiten. Wir wussten damals aber schon, dass es notwendig ist, eine spezielle Stelle einzurichten, bei der sich Institutionen melden können. Man kann den Familien nicht fünf verschiedene Telefonnummern in die Hand drücken. Im Dezember hat der Rat die Wolfsburger Resolution gegen Salafismus verabschiedet. In diesem Zusammenhang stimmte sich die Verwaltung mit der Politik ab, dass eine Dialogstelle Jugendschutz eingerichtet wird. Sie wurde dann im Februar in der Jugendförderung eingerichtet und mit einer halben Stelle besetzt. Eine weitere volle Stelle haben wir jetzt ausgeschrieben.

Können Sie die Aufgabe dieser Dialogstelle genauer beschreiben?

Zum einen geht es darum, innerhalb der Verwaltung alle Akteure, die bei diesem Thema zuständig sein können, zu sensibilisieren, sprachfähig zu machen und miteinander zu vernetzen. Die Kommune kann das Problem nicht alleine lösen.

Derzeit bildet sich zudem ein interkultureller Freundeskreis unter anderem mit der islamischen Gemeinde Wolfsburg, der interne und öffentliche Dialoge und Projekte unterstützt und initiiert. Auch mit der Ditib (Anmerkung der Redaktion: das ist die „Türkisch-Islamische Union“) stehen wir im Kontakt. Nach wie vor sind uns Sensibilisierungsmaßnahmen für Multiplikatoren sehr wichtig, die wollen wir fortsetzen.

Genauso wollen wir beispielsweise Trainer der örtlichen Sportvereine als Multiplikatoren ausbilden – Islamismus kann auch im Sport ein Thema sein. Wir wollen so viele Multiplikatoren wie möglich mit den Schulungen sensibilisieren und die Netzwerke weiter ausbauen. Dafür gilt es, dass sich alle Teilnehmer mit den demokratischen Grundprinzipien befassen und lernen, sich in Auseinandersetzungen mit Argumenten zu behaupten.

Hilfestellung kann man sich auch über Projekte einkaufen. Gibt es da schon konkrete Ideen oder Programme, um die man sich bewirbt?

Ja, in Berlin gibt es das Projekt „Dialog macht Schule“. Junge Menschen werden darin ausgebildet, dass sie selbst Schulungen mit Schülern durchführen können, also ganz auf Augenhöhe. Dafür würden wir gerne junge Menschen aus den muslimischen Gemeinden gewinnen. Das Projekt ist sehr erfolgreich, und wir wollen es auch in Wolfsburg etablieren. Allerdings gibt es derzeit bundesweit eine große Nachfrage, so dass wir es erst im kommenden Jahr einführen können.

Außerdem hat sich die Stadt erfolgreich um das Bundesprogramm „Demokratie leben“ zum Thema Salafismus-Prävention beworben. Mit diesen Fördergeldern von bis zu 65 000 Euro jährlich in den nächsten fünf Jahren wird die Dialogstelle lokale Partnerschaften entwickeln. Über den öffentlichen Dialog soll zu mehr interkulturellem Verständnis beigetragen werden. Ziel muss es sei, junge Menschen demokratiefähig zu machen und sie vor vermeintlich einfachen Antworten zu schützen.

Auch überregionale Netzwerke müssen gestärkt werden Es ist wichtig, dass man sich untereinander austauscht. Außerdem wollen wir weitere Veranstaltungen in Wolfsburg anbieten, die sich speziell an die Bürger richten. Die Aufklärung der Öffentlichkeit ist wichtig.

Reichen Präventionsangebote allein aus, um die Szene zu knacken?

In erster Linie sind die Sicherheitsbehörden gefordert. Da geht um die Gefährder und Gewalttäter. Da, wo es um die Radikalisierung junger Menschen geht, sind jedoch alle angesprochen. Jugendzentren, Schulen, Moscheevereine, Kirchen sind gefragt, sich für das Thema zu engagieren. Und natürlich müssen wir alle darauf achten, ob sich Menschen in unserem Umfeld radikalisieren.

Außerdem sind wir gefordert, die Perspektiven junger Menschen in den Blick zu nehmen. Sie müssen eine Zukunftsperspektive in unserer Stadt haben. Höherwertige Abschlüsse für Jugendliche müssen erreicht werden. Kein Schüler soll die Schule ohne Abschluss verlassen. Beim Regionalverbund für Ausbildung haben wir speziell für junge Leute mit Zuwanderungsgeschichte die Zahl der Ausbildungsplätze erhöht. Nicht weil sie schlechtere Noten haben, sondern weil Sie Ali und nicht Tim oder auch Francesco heißen, ist die Wahrscheinlichkeit in Deutschland höher, dass sie trotz eines guten Realschulabschlusses nicht einmal zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden.