Berlin. Millionen Männer leiden unter Erektionsstörungen. Ihnen könnte eine neue App helfen. Wenn der Arzt sie verschreibt, zahlt die Kasse.

Das langfristige Ziel von Kranus Health klingt wie die Ankündigung einer medizinischen Revolution. „Wir wollen Pfizers Erfolg mit Viagra wiederholen“, sagt Jens Nörtershäuser, einer der Geschäftsführer und Mitgründer des Münchner Start-ups. Dabei gibt es Kranus Health erst seit Sommer 2020 – und dort werden auch keine Potenzpillen wie beim Pharmagiganten hergestellt. Das junge Unternehmen will auf eine andere Art Männern mit Erektionsstörungen helfen – und zwar in „digitaler Form.“

Gelingen soll das mit einer App, die das Start-up im vergangenen Jahr entwickelt und auf den Markt gebracht hat: Kranus Edera, deutschlandweit die erste urologische „App auf Rezept“. Im Dezember 2021 wurde sie als sogenannte Digitale Gesundheitsanwendung, kurz Diga, zugelassen und kann seitdem von Ärztinnen und Ärzten für Patienten ab 18 Jahren verschrieben werden. Die Kosten übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen. Auch Selbstzahler können die App theoretisch nutzen – gegen eine Gebühr von 552 Euro. Die Nutzer durchlaufen ein zwölfwöchiges Programm. Es besteht aus Trainingseinheiten und Achtsamkeitsübungen.

Jens Nörtershäuser, 36, arbeitet seit über zehn Jahren in der Pharmabranche. Ende 2019 fing er an, sich intensiv mit digitaler Medizin zu beschäftigen. „Sie bietet zahlreiche neue Möglichkeiten“, schwärmt er. Nicht nur in der Versorgung. „Auch die Entwicklung von Medikamenten findet im digitalen Bereich näher am Patienten statt, als das bisher das Fall war.“

Größere Studie in Zusammenarbeit mit der Uni Münster

Gemeinsam mit zwei Partnern konkretisierte er die Idee einer Potenz-App. Als wissenschaftlicher Berater stieg Kurt Miller ein, ehemaliger Direktor der Urologie an der Berliner Charité. Die vier gründeten Kranus Health im August 2020, um „Barrieren einzureißen“, wie es Nörtershäuser beschreibt. „Wir wollen neue Lösungen entwickeln, um Erektionsstörungen nachhaltig zu bekämpfen.“ Anderthalb Jahre und eine klinische Studie später war ihre App fertig.

Ob eine App als Diga zugelassen wird, entscheidet das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Kranus Edera wird dort als „vorläufig aufgenommen“ gelistet. Eine solche Kennzeichnung erhalten Programme, die den „Nachweis eines positiven Versorgungseffekts für Patienten noch nicht hinreichend erbracht“ haben, wie das BfArM auf seiner Webseite schreibt. Daher plant das Start-up zusammen mit der Universität Münster eine größere Studie – diesmal mit 200 Teilnehmern. Das Ergebnis soll im Sommer vorliegen.

Erektionsstörungen: Mehrere Millionen Männer sind betroffen

Erektionsstörungen seien immer noch ein Tabuthema, sagt Nörtershäuser. „Dabei haben wir es mit einer Volkskrankheit zu tun.“ In Deutschland leiden Schätzungen zufolge zwischen vier und sechs Millionen Männern an einer sogenannten erektilen Dysfunktion. Unter den 40- bis 49-Jährigen ist knapp jeder zehnte Mann betroffen, unter den 60- bis 69-Jährigen bereits jeder dritte.

Jedoch vermuten Experten, dass nur etwa 20 Prozent der Betroffenen einen Arzt aufsuchen, um sich behandeln zu lassen. Vor allem aus Scham meiden viele Männer einen Besuch beim Urologen. Dabei ist eine professionelle Untersuchung mehr als ratsam. Denn eine Erektionsstörung kann auf eine Gefäßerkrankung hindeuten – und damit ein Vorbote für Herzinfarkte oder Schlaganfälle sein.

Eine erektile Dysfunktion kann körperlich und psychisch bedingt sein, obwohl Fachleute davon ausgehen, dass 90 Prozent der Fälle mit organischen Beschwerden zu tun haben. Am häufigsten ist die Penisdurchblutung gestört. Auch ein Mangel an Testosteron, dem wichtigsten männlichen Geschlechtshormon, zählt zu den Auslösern. Entscheidend ist zudem der Lebensstil: Rauchen, Übergewicht, wenig Bewegung und eine ungesunde Ernährung sind schlecht für die Potenz.

Potenzprobleme: Es gibt einen individuellen Trainingsplan

Deshalb wolle man vor allem eine „ganzheitliche Therapie“ anbieten, sagt Nörtershäuser, „die nicht nur die Erektionsprobleme der Betroffenen verbessert, sondern auch zu einem Anstieg ihrer Lebensqualität führt“.

Auf den ersten Blick sieht Kranus Edera eher wie eine Fitness-App aus. Es gibt einen personalisierten Trainingsplan, beispielsweise zur Stärkung der Becken- und Rückenmuskulatur. Die Patienten machen Ausdauertraining und sexualtherapeutische Übungen. Zur Motivation gibt es Statistiken und Auszeichnungen, wenn bestimmte Abschnitte der Therapie geschafft sind.

Jede Woche sollen die Trainingseinheiten komplexer und anstrengender werden. Nörtershäuser: „Unsere Therapie soll den Praxen nicht die Patienten abjagen, sondern Ärzten neue Behandlungsmöglichkeiten bieten und sie bei der Behandlung zeitlich entlasten.“

Sieht aus wie eine Fitness-App: Kranus Edera.
Sieht aus wie eine Fitness-App: Kranus Edera. © Kranus Health | Kranus Health

Es braucht etwas Zeit, die App zu erklären

„Die App kann die medikamentöse Behandlung von Erektionsstörungen sinnvoll ergänzen“, sagt Christian Wülfing, Chefarzt der Urologie der Asklepios Klinik Altona in Hamburg. „Noch sind aber weitere Daten erforderlich, die gegenüber den Krankenkassen nachweisen, dass der Patient tatsächlich einen Benefit hat.“

Generell begrüßt Wülfing, dass die Potenz-App ins Diga-Verzeichnis aufgenommen wurde. Noch sei es aber fraglich, ob ein Großteil der Ärzte bereit sei, den Betroffenen die App zu erklären. Denn das koste Zeit – und die sei in den Sprechstunden begrenzt. Ein Rezept für Potenz-Pillen über den Schreibtisch zu schieben, ginge viel schneller. „Das wird eine große Herausforderung sein“, so Wülfing.

Nach Angaben von Kranus Health würden bereits mehrere Hundert Fachärzte die App verschreiben. „Seitens der Urologen sehen wir ein großes Interesse“, sagt Nörtershäuser. Und seitens der Betroffenen? „Ebenfalls einige Hundert.“ Exakte Zahlen nennt er nicht.

„Wir wollen international wachsen“, stellt Nörtershäuser klar. Das ist der große Anspruch, der zum Selbstverständnis eines jeden Start-ups gehört, aber nur selten gelingt. Der heißeste Markt sind die USA, dort wollen die Münchner ihr Therapieprogramm als Nächstes herausbringen, auch Frankreich sei interessant. Kranus Health träumt davon, das digitale Gegenstück zu Viagra zu werden und überall auf der Welt ihre App anbieten zu können. Bis dahin aber ist es noch ein weiter Weg.