Brüssel. Düstere Voraussage der EU-Kommission: Es gibt keine Hoffnung auf ein schnelles Ende der Inflation und Deutschland ist Schlusslicht.

Alarmierende Wirtschaftsaussichten für Deutschland und Europa: Die EU-Kommission hat ihre bisherige Zuversicht aufgegeben und erwartet jetzt, dass die hohen Inflationsraten nicht so schnell wieder zurückgehen. Für dieses Jahr wird eine Rekordinflation in Deutschland von 7,9 Prozent erwartet, in der EU insgesamt sogar von 8,3 Prozent. Das geht aus der Sommerprognose der EU-Kommission hervor, die am Donnerstag in Brüssel vorgelegt wurde.

Und auch die Konjunktur wird jetzt massiv einbrechen – mit Deutschland als Schlusslicht und Bremser beim Wirtschaftswachstum in Europa. EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni schloss nicht aus, dass selbst diese düstere Prognose noch zu optimistisch ist: Europa müsse sich auf eine Rezession vorbereiten.

Inflation in Deutschland: Das erwartet die EU-Kommission

Inflation: Die EU-Kommission erwartet für Deutschland dieses Jahr eine Inflationsrate von 7,9 Prozent, im nächsten Jahr soll die Preissteigerung immer noch bei 4,8 Prozent liegen. Die Erwartung für die Inflation ist für Deutschland damit etwas höher als im Durchschnitt der Euro-Zone. Eine solch dramatische Teuerung hat die Bundesrepublik zuletzt vor rund 50 Jahren erlebt, damals aber nur kurzfristig.

Die bisher geäußerten Erwartungen in Berlin und Brüssel, der Preisanstieg werde sich auch jetzt kurzfristig wieder beruhigen, sind nun hinfällig. Begründung der Kommission für den Pessimismus: „Zusätzlich zum starken Preisanstieg im zweiten Quartal dürfte ein weiterer Anstieg der europäischen Gaspreise auch über die Strompreise an die Verbraucher weitergegeben werden.“

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Der Anstieg der Energie- und Nahrungsmittelpreise baue global weiteren Inflationsdruck auf. Es wird also noch schlimmer: Die Kommission geht davon aus, dass die Inflation in der Euro-Zone im dritten Quartal ihren Höchststand von 8,4 Prozent erreichen wird – obwohl die Wirtschaft einbricht. Danach soll sich der Preisanstieg zwar verlangsamen, aber auch im Jahresdurchschnitt 2023 Eu-weit immer noch bei 4,6 Prozent viel zu hoch liegen.

Rückschlag für die Bundesregierung: Noch Ende April hatte die Bundesregierung in ihrer Frühjahrsprognose erklärt, dass die Inflation nächstes Jahr auf 2,8 Prozent sinken werde, nach 6,1 Prozent 2022. Ausgerechnet am Donnerstag legte das Bundeswirtschaftsministerium seinen Bericht zur wirtschaftlichen Lage im Juli vor, in dem ein Rückgang der Inflationsrate im Vormonat (auf 7,6 Prozent) gewürdigt wird: „Die von der Bundesregierung ergriffenen Maßnahmen wie der sogenannte Tankrabatt und das Neun-Euro-Ticket haben den Preisauftrieb etwas gedämpft.“

Preise für Energie und Lebensmittel treffen Geringverdiener

Das Problem: Beide mit viel Steuergeld finanzierten Maßnahmen laufen Ende August aus, ein zusätzlicher Preissprung droht. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) warnte in einer am Donnerstag vorgelegten Untersuchung, die steigenden Preise für Lebensmittel und Energie träfen Haushalte mit geringen Nettoeinkommen viel stärker als Gutverdiener: Im untersten Einkommens-Zehntel beträgt demnach die Zusatzbelastung 5,3 Prozent des Nettoeinkommens, im obersten nur 1,1 Prozent. Weitere Hilfspakete seien notwendig, vor allem für einkommensschwache Haushalte.

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Wachstum: Das Wirtschaftswachstum in der Europäischen Union bricht laut Prognose wegen des Ukraine-Krieges und der Energiekrise massiv ein. Bislang habe Europa noch von einem starken Jahr 2021 profitiert, aber für die kommenden Monate wird nun ein starker Knick erwartet – gegenüber dem Vorjahr wird sich das Bruttoinlandsprodukt 2022 deshalb auf 2,7 Prozent halbieren, 2023 wird die Wachstumsrate sogar auf weniger als ein Drittel (1,5 Prozent) zurückgefallen sein. Aufgrund ihrer großen Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland sei die EU-Wirtschaft nach wie vor besonders anfällig für Entwicklungen an den Energiemärkten, und durch das weltweit schwächelnde Wachstum werde die Auslandsnachfrage in Mitleidenschaft gezogen, so die Prognose.

In Deutschland sieht es noch schlimmer aus: Hier erwarten die Experten jetzt nur noch ein Wachstum von 1,4 Prozent in diesem Jahr und 1,3 Prozent im nächsten Jahr – deutlich weniger, als die Bundesregierung zuletzt angegeben hatte. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) war noch Ende April von 2,2 Prozent Wachstum 2022 ausgegangen und einem Anstieg auf 2,5 Prozent im nächsten Jahr – stattdessen geht es jetzt deutlich abwärts. Kommissar Gentiloni machte dafür die sinkende Kaufkraft der Verbraucher hierzulande, aber auch die anhaltenden Lieferketten-Probleme und den Kostendruck auf die Wirtschaft verantwortlich.

Gas-Stopp aus Russland noch nicht einberechnet

Die EU-Kommission warnt sogar, es könne noch schlimmer kommen als von ihr jetzt vorhergesagt - denn ein plötzlicher der Stopp der russischen Gaslieferungen, der die Schlüsselindustrien in Deutschland schwer treffen würde und damit das Wachstum weiter einbrechen ließe, sei noch gar nicht eingerechnet. Die neue EU-Vorschau zeigt zudem, dass Deutschland ohnehin schon jetzt zur großen Wachstumsbremse geworden ist: Deutschland liegt in der Eurozone bei der Wachstumsrate auf dem letzten Platz aller 19 Euro-Staaten, in der gesamten EU steht nur Schweden noch schlechter da.

Ein Grund dafür dürfte die starke Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft sein. Kommissions-Vizepräsident Valdis Dombrovskis sagte: „Russlands Krieg gegen die Ukraine wirft weiter einen langen Schatten auf Europa und unsere Wirtschaft.“ Die Union kämpfe mit Herausforderungen an mehreren Fronten, von steigenden Energie- und Nahrungsmittelpreisen bis hin zu einer großen Ungewissheit, wie sich die globale Wirtschaft entwickeln werde.

Corona-Pandemie könnte zu neuen Erschütterungen führen

Rezessionsgefahr: Wirtschaftskommissar Gentiloni räumte deshalb ein, dass alles noch schlimmer kommen könnte: Wegen des ungewissen Verlaufs des Ukraine-Kriegs und der Abhängigkeit von unsicheren Gaslieferungen seien Vorhersagen schwierig. „Ein neuer Anstieg des Gaspreises könnte die Inflation weiter hochtreiben und das Wachstum ersticken“, sagte Gentiloni.

Mehr noch: Ein kurzfristiger Stopp der russischen Gaslieferungen würde die europäische Wirtschaft noch im zweiten Halbjahr in die Rezession stürzen und sie 2023 noch weiter niederdrücken. „Darauf müssen wir uns vorbereiten“, mahnte Gentiloni. Und am Horizont taucht für die Wirtschaftsexperten in der EU-Zentrale ein zusätzliches Risiko auf: Es sei nicht auszuschließen, dass ein erneuter Anstieg der Corona-Pandemie in den nächsten Monaten neue Erschütterungen der europäischen Wirtschaft auslösen werde.

Dieser Artikel erschien zuerst auf abendblatt.de.