Berlin. Online-Petitionen erleben in der Corona-Krise einen wahren Boom. Viele Unterzeichner drängen auf ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Als sich David Erler am 11. März vor seinen Computer setzte, war die Unsicherheit bereits groß. Noch vier Tage zuvor wurde in den Bundesligastadien vor vollen Rängen gekickt, dennoch erreichten den selbstständigen Sänger aus Leipzig bereits reihenweise Absagen. Konzerthallen schlossen ihre Türen, Musikfestspiele fielen aus, Bund und Länder riefen dazu auf, Großveranstaltungen zu meiden. Dass es weitere Einschränkungen geben würde, um der Ausbreitung des Coronavirus Einhalt zu gebieten, war für Erler absehbar.

Also setzte er sich vor seinen Rechner und tat etwas, was er zuvor noch nie gemacht hatte. Er startete eine digitale Unterschriftensammlung, eine Online-Petition. Sein Aufruf an die Politik: „Vergesst die Kunstszene und Freiberufler nicht.“

Online-Petitionen erleben durch Corona-Krise einen Boom

Seine Petition erfuhr enormen Zuspruch. Binnen vier Wochen unterzeichneten über 285.000 Menschen die Petition, einen weiteren Monat später war die Marke von 290.000 Unterschriften geknackt. „Es gibt viele freie Berufe, die bundesweit nur von einer kleinen Anzahl an meist hoch spezialisierten Profis ausgeübt werden. Aber zusammen ergeben diese Gruppen eine große Zahl. Die Solidarität über die Berufsgruppen hinweg, die meine Petition unterstützt haben, hat mich beeindruckt“, sagt der auf Barockmusik spezialisierte Sänger.

David Erler ist mit seiner Petition kein Einzelfall. Die Corona-Krise hat den Trend zur digitalen Unterschriftensammlung beschleunigt. Das geht aus einer bisher unveröffentlichten Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) hervor, die unserer Redaktion vorliegt. Das arbeitgebernahe Institut aus Köln hat zwischen November und Juni rund 1800 Petitionen mit rund 29 Millionen Unterschriften der kommerziellen Beteiligungsplattform change.org, die mit über sechs Millionen Nutzern die größte gewerbliche Petitionsplattform in Deutschland ist, ausgewertet.

IW-Studie: Petition um das Fünffache gestiegen

Bevor das Virus im März von der Weltgesundheitsorganisation als Pandemie eingestuft wurde, seien im Schnitt pro Tag drei Petitionen eingestellt worden, schreiben die IW-Wissenschaftler Ruth Schüler und Armin Mertens.

Mitte März sei die durchschnittliche Anzahl um das Fünffache gestiegen, am höchsten Tageswert gar um das Fünfzehnfache. „Dieser deutliche Anstieg des politischen Protests im digitalen Raum zeigt, dass die Demokratie auch in Krisenzeiten Resilienz beweisen kann“, schreiben die Autoren. Von November bis Juni hatten insgesamt 61 Prozent der Petitionen einen Corona-Bezug.

Wirtschaftliche Sorgen treiben Initiatoren um

Vor allem wirtschaftliche Sorgen treiben der Studie zufolge die Initiatoren und Unterzeichner der Petitionen an. Zur Hochphase der Pandemie im März und April seien insgesamt 3,3 Millionen Unterschriften für Petitionen mit Corona-Bezug gesammelt worden, 1,35 Millionen Unterschriften widmeten sich dabei wirtschaftlichen Dimensionen.

Damit liegt die Wirtschaft laut der Studie noch deutlich vor Petitionen, die etwa das Gesundheitswesen oder den Bereich Bildung umfassen. Besonders häufig seien eine Öffnung von Geschäften, eine Lockerung der Restriktionen in der Tourismusbranche sowie finanzielle Unterstützung für einzelne Berufsgruppen gefordert worden.

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Mittelstandspräsident warnt vor zweitem Lockdown

Zwar geht die Anzahl der Petitionen seit der Hochphase der Beschränkungen wieder etwas zurück, doch auch derzeit verschaffen sich Selbstständige ebenso wie Verbände Gehör im Netz. Der Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW) etwa will aus Sorge vor einem zweiten Lockdown im Herbst mit einer Petition ein erneutes Herunterfahren der Wirtschaft von vornherein verhindern. „Die Maßnahmen gegen Corona dürfen nicht gefährlicher sein als das Virus selbst. Ein erneutes Herunterfahren der Wirtschaft wäre wie ein zweiter Herzinfarkt: deutlich gefährlicher als der erste“, sagte Mittelstandspräsident Mario Ohoven unserer Redaktion.

Mit der Form der Online-Petition habe man bereits vor acht Jahren gute Erfahrungen gemacht, als man binnen kurzer Zeit 50.000 Unterstützer für eine Forderung nach bezahlbarem Strom zusammenbekam. „Online-Petitionen sind aber nicht nur ein wichtiges politisches Instrument. Sie verstärken auch unsere Botschaft im Netz, denn die zahlreichen Schlagzeilen, Teilungen und Kommentare in den Sozialen Medien beeinflussen die öffentliche Debatte im Sinne des Mittelstands“, sagte Ohoven.

Mittelstandspräsident Mario Ohoven warnt vor einem erneuten Herunterfahren der Wirtschaft – und will ein solches Szenario per Petition unterbinden.
Mittelstandspräsident Mario Ohoven warnt vor einem erneuten Herunterfahren der Wirtschaft – und will ein solches Szenario per Petition unterbinden. © imago/Agentur Baganz | imago stock&people

Bedingungsloses Grundeinkommen verzeichnet die meisten Unterschriften

Die Petition, die laut der IW-Untersuchung die größte Resonanz erfuhr, sorgte ebenfalls für eine öffentliche Debatte: Angesichts der Krise wurde ein bedingungsloses Grundeinkommen gefordert. Fast eine halbe Million Unterschriften entfielen auf die Online-Petition.

Es folgen ein gemeinsamer Aufruf von Pflegefachkräften an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sowie die Forderung nach einer Aufstockung des Kurzarbeitergeldes auf 90 Prozent, um auch in der Krise die Miete bezahlen zu können.

David Erlers Petition wurde abgelehnt

Auch Sänger David Erler forderte ein zeitlich begrenztes bedingungsloses Grundeinkommen mit seiner Petition. Die von der Regierung beschlossenen Überbrückungshilfen erachtet er als nicht zielführend. „Ich habe kaum Betriebskosten, muss keine Ladenmiete zahlen, habe keinen Dienstwagen, nicht einmal Reisekosten habe ich aktuell, da ja alles abgesagt ist“, sagt der Leipziger.

Was aber bleibt, sind für den zweifachen Familienvater die Kosten für den Lebensunterhalt. „Den bezahle ich mit meinen Honoraren, die ich nun nicht mehr habe. Dass das ineinandergreift, scheinen viele aber nicht zu verstehen“, sagt Erler. Der Petitionsausschuss lehnte seine Petition ab, immerhin durfte er im Bundeswirtschaftsministerium seine Unterschriftensammlung aushändigen.

„Ich glaube nicht, dass daraus noch viel wird. Wahrscheinlich liegt sie auf irgendeinem Schreibtisch“, sagt Erler, der sich darüber ärgert, dass er trotz 290.000 Unterschriften keine Möglichkeit hat, sein Anliegen vor Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) oder zumindest Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) vortragen zu dürfen.

Der Leipziger Sänger David Erler erreichte mit seiner Online-Petition über 290.000 Unterstützer.
Der Leipziger Sänger David Erler erreichte mit seiner Online-Petition über 290.000 Unterstützer. © Björn Kowalewsky

Einfache Zugänglichkeit für Petitionen entscheidend

„Auch mit 290.000 Unterstützern im Rücken findet man bei den Entscheidungsträgern kein Gehör“, sagt Erler. Er führt das auch darauf zurück, dass er sich bei seiner Unterschriftensammlung nicht für das offizielle digitale Petitionsprogramm des Bundestages, sondern für die freie Plattform Openpetition entschieden hat. „Beim Petitionsausschuss muss man erst einen Account anlegen, ehe man die Petition suchen und unterzeichnen kann. Die Hürden waren mir zu groß“, sagt Erler. Bei Openpetition hingegen kann jeder mit Angabe seines Namens und der E-Mail-Adresse schnell unterschreiben.

Diese einfache Zugänglichkeit sehen die IW-Forscher neben dem zur Hochphase der Pandemie stark eingeschränkten Demonstrationsrecht auch als Hauptgrund für den starken Zuspruch der Online-Petitionen. „Es fallen keine monetären Kosten an und der Zeitaufwand sei im Vergleich zu anderen Formen der politischen Partizipation gering“, schreiben Schüler und Mertens.

Diejenigen, die an Unterschriftensammlungen teilnehmen, seien im Mittel 43,4 Jahre alt, das Geschlechterverhältnis sei ausgeglichen, auf der politischen Rechts-links-Skala verortet sich die Mehrheit in der Mitte. Man könnte auch sagen: Petitionsteilnehmer sind in gewisser Weise durchschnittlich. Darin liegt laut den Forschern aber eine Chance: „Gerade in Krisenzeiten und in einer demokratischen Ausnahmesituation wie dem Corona-Lockdown, in der kurzzeitig Grundrechte eingeschränkt wurden, ist es wichtig, die Stimmen aus der Bevölkerung zu hören und ernst zu nehmen.“

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