Braunschweig. Für Experten ist klar: Schülerinnen und Schüler brauchen eine deutlich bessere Berufsorientierung und mehr Ausflüge in die Praxis.

Die Forderung kommt aus unterschiedlichen Richtungen und klingt immer gleich: Die Berufsorientierung für junge Menschen muss besser werden. Davon sollen nicht nur die Schulabgängerinnen und -abgänger selbst profitieren, sondern auch die Ausbildungsbetriebe. Eine bessere Kenntnis über Ausbildungsberufe soll die Abbrecherquoten senken und den Unternehmen helfen, ihre Ausbildungsplätze zu besetzen.

Der Salzgitteraner Verein „Partnerschaft für Lehrstellen“ hat zu dem Thema jüngst in Salzgitter eine große Veranstaltung organisiert, auf der auch Niedersachsens Kultusministerin Julia Willie Hamburg sprach. Im Gespräch mit unserer Zeitung unterstreicht Peter Schürmann, Vorsitzender des Vereins, dass die Berufsorientierung eine wachsende Bedeutung bekommt. Der Verein hilft seit vielen Jahren Jugendlichen, einen Ausbildungsplatz zu finden und führt Betriebe und Bewerber zusammen.

Viele Jugendliche sind über Ausbildung nicht ausreichend informiert

„Der Mangel an Orientierung nimmt zu. Die Jugendlichen wissen oft gar nicht, was sie eigentlich wollen“, sagt er. Das gelte für etwas mehr als die Hälfte der jungen Menschen. Dabei beruft sich Pädagoge Schürmann auf eine Umfrage unter Salzgitteraner Schulen, die jährlich gemeinsam von der Stadt und dem Verein erhoben wird.

Seine Beobachtung: Eine lückenhafte Berufsorientierung ist nicht neu. In der Vergangenheit hätten sich daher viele Schülerinnen und Schüler für den Besuch einer weiterführenden Schule entschieden. „Das war für sie eine bequeme Lösung“, sagt er. Derzeit deute nun aber vieles darauf hin, dass Jugendliche gar nicht mehr wüssten, was sie tun sollen und wollen. „Sie entscheiden sich weder für eine Ausbildung noch für eine Schule.“

Experte: Jugendlichen fehlt Unterstützung der Eltern bei Suche nach Ausbildungsplatz

Das ist nicht nur für die jungen Menschen misslich, sondern auch für viele Unternehmen, denen der Nachwuchs fehlt. Schürmann: „Nach der zehnten Klasse interessieren sich nur noch 30 Prozent der Schüler für eine betriebliche Ausbildung.“ Die Hauptursache in dieser Entwicklung sieht Schürmann in den Elternhäusern. „Die Jugendlichen werden weniger von ihren Eltern unterstützt.“

Angesichts der Vielzahl der Ausbildungsberufe fehle den Müttern und Vätern häufig der Überblick. „Oft informieren sie sich zu wenig“, hat Schürmann beobachtet. Außerdem sei Eltern eine entspannte Freizeit mit ihren Kindern in vielen Fällen wichtiger als die Mühen der Erziehung. Ein weiterer Punkt: „Eltern wollen sehr häufig, dass ihre Kinder das Abitur machen.“ Er empfiehlt Eltern daher, dass sie sich gemeinsam mit ihren Kindern Hilfe bei professionellen Berufsberatern suchen.

Jugendliche beginnen Ausbildung später

Hinzu komme, dass die Erwartung von Eltern an ihre Kinder, möglichst früh eigenes Geld zu verdienen, abgenommen habe. Damit fehle den Jugendlichen auch der wirtschaftliche Anreiz beziehungsweise Druck. Schürmann: „Das Zuhause bietet einen Schonraum, der nicht verlassen werden muss.“ Die Folge: Jugendliche reiften heute später. „Daher beginnen viele ihre Ausbildung erst mit Anfang 20.“

Als hinderlich bei der Berufswahl empfindet Schürmann zudem, dass sich geschlechterspezifische Berufsbilder verfestigt hätten. Noch immer würden zum Beispiel viel zu wenig junge Frauen technische Berufe ergreifen.

Auch Lehrer kennen nicht alle Ausbildungsberufe

Lehrer könnten die Defizite in den Elternhäusern nicht ausgleichen. Dazu fehle das Personal, außerdem hätten auch viele Lehrkräfte nicht den vollständigen Überblick über die rund 350 Ausbildungsberufe. Was also tun?

Schürmann sieht viele Hebel, die vieles bewirken könnten. So empfiehlt er zum Beispiel eine vertiefte Zusammenarbeit zwischen berufsbildenden und weiterführenden Schulen – insbesondere Gymnasien. „Berufsschullehrer könnten dann über Ausbildungsberufe informieren“, sagt Schürmann.

Pflichtjahr zur Berufsorientierung, um passende Ausbildung zu finden

Ein weiterer Vorschlag: An den Schulen sollte ab der achten, spätestens ab der neunten Klasse ein wöchentlicher Berufspraxistag eingeführt werden. Der könne den Mädchen und Jungen die Möglichkeit bieten, in ganz unterschiedliche Berufe hineinzuschnuppern.

Noch besser fände Schürmann sogar ein Pflichtjahr nach der regulären Schulzeit, damit die jungen Menschen, die noch keinen Ausbildungsplatz haben, sich einen Überblick über die unterschiedlichen Berufe verschaffen können. „Das könnte im Rahmen des freiwilligen sozialen Jahres geschehen“, schlägt er vor.

Mehr und kürzere Praktika für Jugendliche sollen bei Ausbildungsplatzwahl helfen

Eine wichtige Rolle müssen nach seiner Einschätzung weiterhin Berufspraktika während der Schulzeit spielen. Allerdings unter anderen Vorzeichen als bisher. So wäre es aus Sicht Schürmanns besser, wenn die bisherigen Blockpraktika in mehrere kleine Blöcke aufgeteilt würden. Einerseits, um den Jugendlichen die Chance zu geben, verschiedene Berufe kennenzulernen. Andererseits, um die jungen Leute nicht zu überfordern. „Sie kennen den Berufsalltag doch noch gar nicht.“

Ein weiterer Aspekt: Noch immer würden zu wenig Betriebe Praktikumsplätze anbieten, kritisiert Schürmann. Das würde sie um die Chance bringen, junge Menschen als Nachwuchs zu gewinnen. Außerdem entsprächen etliche Praktikumsplätze nicht den Interessen der jungen Menschen. Als Beispiel nennt Schürmann Gymnasiasten, die sich für eine Laufbahn als Arzt oder als IT-Spezialist interessieren. „Ihnen werden dann oft Praktika in der Pflege oder in der Bürokommunikation angeboten, das passt nicht.“

Auch Gewerkschaften und Verbände fordern bessere Berufsorientierung vor der Ausbildung

Für eine bessere Berufsorientierung hatten sich gegenüber unserer Zeitung bereits vor wenigen Tagen auch die Handwerkskammer Braunschweig-Lüneburg-Stade sowie die IG Metall ausgesprochen. Die Gewerkschaft fordert eine verpflichtende Berufsorientierung ab der 7. Klasse.

Volker Schmidt, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Niedersachsenmetall, beschreibt gegenüber unserer Zeitung die Dringlichkeit des Themas: „Der Fachkräftemangel ist eines der größten Wachstumsrisiken der deutschen Wirtschaft. Wenn im vergangenen Jahr bundesweit rund 2 Millionen offene Stellen nicht besetzt werden konnten, bei aktuell 2,8 Millionen Arbeitslosen, dann ist das auch Ausdruck mangelnder Berufsorientierung.“

Viele Ausbildungsplätze bleiben unbesetzt

Allein in Niedersachsen gebe es in den sogenannten MINT-Berufen, gemeint sind technisch-naturwissenschaftliche Berufe, rund 50.000 unbesetzte Stellen, etwa 30.000 davon seien Ausbildungsplätze. Schmidt: „Vielen Schulabgängern fehlt schlicht der notwendige Durchblick auf dem Arbeitsmarkt, sie beginnen daher eher aus Verlegenheit ein Studium, obwohl eine akademische Laufbahn gar nicht ihren Fähigkeiten und Neigungen entspricht.“

Die vielfältigen Perspektiven und Chancen des Arbeitsmarktes würden Schülern durch vereinzelte Praktika allenfalls angedeutet. „Für eine bessere Berufsorientierung müsste die Arbeitswelt viel stärker und praxisnah im Schulalltag präsent sein“, sagt auch Schmidt. „Begeisterung für Berufe entsteht vor allem durchs Ausprobieren, durchs Machen – das lässt sich alle zwei Jahre eindrucksvoll auf der Ideen-Expo beobachten, wo wir Jugendliche für naturwissenschaftlich-technische Berufe begeistern.“

Fast jeder zweite Betrieb kann nicht alle Ausbildungsplätze besetzen

Wie Schürmann und Schmidt fordert auch Achim Dercks, stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), dass Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit bekommen sollen, mehr Praxiserfahrung zu sammeln. „Mehr, aber kürzere Praktika“, lautet seine Formel.

Nach DIHK-Angaben konnten laut Ausbildungsumfrage 47 Prozent der Unternehmen nicht alle Ausbildungsplätze besetzen. Das sei ein neues Allzeithoch. Mit Verweis auf Zahlen des Bundesinstituts für Berufsbildung beschreibt der DIHK eine weitere Entwicklung: Im Jahr 2022 hätten 29,5 Prozent der Auszubildenden ihre Lehre abgebrochen.

Wie Dercks erläutert, bringe das nicht nur Enttäuschungen für die jungen Menschen und die Ausbildungsbetriebe mit sich. Zugleich würden vorzeitige Vertragsauflösungen für vergebliche Investitionen der Betriebe stehen. Dercks: „Eine frühzeitige und gezielte Berufsorientierung kann hier wirkungsvoll vorbeugen.“