Paris. Erst Reformstau, nun Dauerkrise: Frankreich hat zahlreiche Baustellen. Das verunsichert die Gesellschaft – mit unberechenbaren Folgen.

  • Laut einer Umfrage sind die Franzosen das pessimistischste Volk der Welt
  • Und es gibt genug Grund zur Sorge. Zum Beispiel 24 Prozent Jugendarbeitslosigkeit
  • Der Staat hat wenig Reformen hervorgebracht – trotz einem Heer an Beamten

„It´s the economy, stupid!“ (Es ist die Wirtschaft, Dummkopf), lautete ein Leitmotiv Bill Clintons in jenem Wahlkampf, der ihm 1992 den Weg ins Weiße Haus ebnete. Und unter dem Eindruck, dass sich trotz der Terrorbedrohung und einer weitestgehend gescheiterten Integration der Immigranten aus dem Maghreb und anderen afrikanischen Staaten letztlich beinahe alles um die Wirtschaft dreht, stehen auch die krisenzermürbten Franzosen. Dafür bürgen die zahlreichen Probleme, die ihnen auf den Nägeln brennen und unter denen das Land ächzt.

Tiefrot sind die Zahlen der Frankreich AG in diesem Wahljahr 2017: 10 Prozent Arbeitslosigkeit, 49 Milliarden Euro Außenhandelsdefizit und ein Schuldenberg, der auf den Rekordwert von 96 Prozent des Bruttoinlandsproduktes angestiegen ist.

Tief sitzende Abstiegsängste

So offensichtlich ist das Schwächeln der seit 2008 von einer Dauerkrise gebeutelten Grande Nation, dass die Menschen von tief sitzenden Abstiegsängsten geplagt werden. Umfragen weisen unsere Nachbarn als das pessimistischste Volk der Welt aus. Selbst die Afghanen und Iraker blicken optimistischer in die Zukunft als die Franzosen.

Jacque Chirac, Nicolas Sarkozy, François Hollande – keinem der letzten drei Präsidenten ist es gelungen, das Land nachhaltig zu reformieren. Entweder mochten sie sich den Problemen gar nicht erst stellen oder sie packten sie bestenfalls halbherzig an. Dabei sind die Knackpunkte seit langem bekannt.

Zu ihnen zählt nicht nur eine wuchernde Bürokratie (Frankreich leistet sich das größte Beamtenheer der westlichen Welt, jeder fünfte Arbeitnehmer gehört den öffentlichen Diensten an), sondern auch die höchsten Sozialabgaben gepaart mit den großzügigsten Sozialleistungen Europas, die geradewegs in einem Milliarden-Defizit der Sozialkassen münden.

24 Prozent Jungendarbeitslosigkeit

Die französische Mängelliste lässt sich leider fortsetzen, doch wo soll man anfangen? Beim Ausbildungssystem, welches die erschreckend hohe Jugendarbeitslosigkeit von 24 Prozent produziert? Bei dem viel zu unflexiblen Arbeitsmarkt oder bei der 35-Stunden-Woche, die die Wettbewerbsfähigkeit der ohnehin überregulierten Unternehmen so nachhaltig untergraben? Oder bei der seit Jahren beständig steigenden Steuerlast, die europaweit nur in Dänemark noch höher ausfällt?

Nach wie vor verfügt Frankreich zwar über Pfunde, mit denen es wuchern kann. Zu ihnen gehören vor allem eine gute Infrastruktur, eine boomende Tourismus-Branche sowie einige sehr leistungsstrake Konzerne im Industrie– und Dienstleistungssektor. Doch das reicht schon lange nicht mehr, um seine grundlegenden Schwächen auszugleichen. Allein die Tatsache, dass in Frankreich immer mehr Industriearbeitsplätze abgebaut und ins Ausland verlagert werden (rund 650.000 Jobs in den letzten 12 Jahren), macht das deutlich. Der Chefvolkswirt der Pariser Natixis-Bank, Patrick Artus, behauptet bereits, die zweitgrößte Volkswirtschaft Europas dürfe sich eigentlich gar nicht mehr als Industrienation bezeichnen.

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    Hamon verspricht bedingungsloses Grundeinkommen

    Von den elf Bewerbern um das höchste Amt im Staat wagen dennoch nur zwei – der konservative Kandidat François Fillon sowie sein parteiloser Konkurrent Emmanuel Macron – das Thema Strukturreformen überhaupt anzusprechen. Die übrigen Konkurrenten hingen weisen Einschnitte in das soziale Netz oder wirtschaftsliberalen Maßnahmen weit von sich.

    Vielmehr versprechen sie neue und wohlgemerkt nicht gegenfinanzierte Wohltaten (etwa das von dem Sozialisten Benoit Hamon propagierte bedingungslose Grundeinkommen für alle oder die sowohl von der Rechtsextremistin Marine Le Pen als auch von dem Linksaußen Jean-Luc Mélenchon ausgelobten Renten- und Mindestlohnerhöhungen).

    Ausnahmezustand gilt noch bis Juni

    Vom Ernst der Lage ist im laufenden Wahlkampf zwar jeden Tag die Rede, von einem energischen Gegensteuern hingegen ungleich weniger. Dabei wissen sämtliche Spitzenpolitiker, dass das Herumreißen des Steuers überfällig ist – und die meisten Wähler wohl auch. Nicht von ungefähr weist der die wirtschaftliche Stärke der Euro-Länder messende Euro-Monitor, den der Versicherungskonzern Allianz alljährlich veröffentlicht, Frankreich gemeinsam mit Italien den Platz als Europas Schlusslicht zu.

    Ebenso nachhaltig wie die wirtschaftliche Abwärtsspirale drückt allerdings auch die terroristische Bedrohung auf das Gemüt unserer Nachbarn. Seit Januar 2015 wird das Land von einer beispiellosen Serie islamistischer Anschläge heimgesucht, der bereits 238 Menschen zum Opfer fielen. Noch bis nach den Parlamentswahlen im Juni gilt der Ausnahmezustand, schwerbewaffnete Polizisten und Soldaten sichern Bahnhöfe, Flughäfen, Touristenattraktionen sowie öffentliche Einrichtungen.

    Und erst am Dienstag wurden in Marseille zwei Islamisten festgenommen, die offenbar noch vor diesem Sonntag ein Blutbad auf einer Wahlkampfveranstaltung Fillons anrichten wollten.

    50.000 Polizisten sichern Wahllokale

    „Die Terrorgefahr war noch sie so hoch“, warnt Innenminister Matthias Fekel, der eine weitere Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen für alle Präsidentschaftskandidaten und deren Wahlkampfauftritte anordnete. Zudem wurden nun 50.000 Polizisten mobilisiert, um bei den Urnengängen die Wahllokale zu schützen.

    Der knapp vereitelte Anschlag beleuchtet einmal mehr die vielleicht größte Herausforderung, vor der sich die französische Gesellschaft gestellt sieht: die Integration der moslemischen Einwanderer. Es gilt endlich deren sozialer Abkoppelung in den Vorstadtghettos entgegenzuwirken, durch die ein neues Proletariat entstanden ist – und ein fruchtbarer Boden für die dschihadistische Propaganda. Keineswegs zufällig waren die meisten Attentäter der letzten 27 Monate französische Staatsbürger mit afrikanischen Wurzeln.

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