Braunschweig. Die neue ICE-Linie über Erfurt schafft Verlierer. Braunschweig und Wolfsburg behalten ihren Anschluss, beschwört die Bahn – noch.

Unser Leser, der sich Krapottke nennt, bemerkt auf unseren Internetseiten:

Eines ist klar: Die ICE-Linie Berlin – Wolfsburg – Braunschweig – Frankfurt – Stuttgart – München entfällt und wird über die Neubaustrecke über Erfurt umgelegt.

Zum Thema recherchierte Andre Dolle

Bei der Bahn steht Mitte Dezember der größte Fahrplanwechsel seit Jahrzehnten an. Grund ist VDE-8. Das ist keine neue Figur im nächsten Star-Wars-Film, sondern das Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nummer 8. Es ist ein gigantisches Gleiserücken, in dessen Folge die thüringische Landeshauptstadt Erfurt als neuer Bahnknotenpunkt etabliert und eine neue ICE-Strecke eröffnet wird. Die Fahrtzeit Berlin – München wird sich von sechs auf vier Stunden verkürzen.

Die neue milliardenschwere Strecke München - Erfurt - Berlin ist eine Konkurrenz zur Linie über Wolfsburg und Braunschweig. Die Bahn beteuert, dass die Verbindung über unsere Region dennoch erhalten bleiben soll.
Die neue milliardenschwere Strecke München - Erfurt - Berlin ist eine Konkurrenz zur Linie über Wolfsburg und Braunschweig. Die Bahn beteuert, dass die Verbindung über unsere Region dennoch erhalten bleiben soll.

Nicht jeder freut sich über die neue, schnelle ICE-Verbindung. Das Großprojekt schafft Verlierer – die Stadt Jena zum Beispiel verliert ihren Anschluss an den Fernverkehr. Auch in unserer Region gibt es seit Jahren große Befürchtungen, dass die ICE-Verbindung über Berlin, Wolfsburg, Braunschweig, Frankfurt, Stuttgart und München nun entfällt – oder zumindest vom Takt her stark ausgedünnt wird.

Reinhard Manlik (CDU) ist Mitglied im Rat der Stadt Braunschweig. Er ist außerdem Mitglied in der Verbandsversammlung des Regionalverbands Braunschweig und war zwölf Jahre lang Chef des ADAC Niedersachsen/Sachsen-Anhalt. Er kennt sich in Verkehrsfragen aus. Er sagt: „Auch die Bahn muss wirtschaftlich arbeiten. Ich habe eine große Sorge: Dass die Strecke über Wolfsburg und Braunschweig künftig nicht mehr so attraktiv sein wird. Viele Großstadtkunden aus Berlin und aus München sowie aus dem jeweiligen Umland werden die Verbindung über Erfurt nutzen.“

Werden Braunschweig und Wolfsburg also weitere Verlierer sein? Ulrich Bischoping, Norddeutschland-Chef der Bahn, sagt unserer Zeitung ganz klar und unmissverständlich: „Nein!“ Er kenne die Befürchtungen von Politikern und Unternehmern aus unserer Region. „Die halte ich für übertrieben. Ich empfehle den Entscheidern in Ihrer Region etwas mehr Selbstbewusstsein“, so der Bahn-Manager. „Braunschweig, Wolfsburg, aber auch Hildesheim, Göttingen und Kassel, die ebenfalls ICE-Haltepunkte haben, sind doch stolze Städte. Da wohnen viele Leute, da gibt es viele Arbeitsplätze, Potenzial für eine ICE-Strecke.“

Bischoping fügt aber hinzu, dass er nicht wisse, was in fünf oder zehn Jahren sei. Das heißt: Die Bahn wird überprüfen, ob die ICE-Strecke über Braunschweig und Wolfsburg trotz der neuen Konkurrenz über Erfurt profitabel bleibt.

Laut Manlik werde die Bahn nicht einfach so Milliarden in das Prestigeprojekt investiert haben. „Die Bahn setzt jetzt voll auf die neue Strecke“, sagt er. In der Tat sind die Zahlen beeindruckend: Die Zehn-Milliarden-Euro-Trasse soll den Marktanteil der Bahn auf der Strecke Berlin – München von 20 auf 40 Prozent verdoppeln. 107 Kilometer lang ist der neu ausgebaute Abschnitt zwischen Nürnberg und Erfurt. Durch

22 Tunnel und über 29 Brücken rauschen die Züge mit bis zu

300 Stundenkilometern durch Berge und über Täler des Thüringer Waldes hinweg.

Vor einem Jahr schon schrieb Braunschweigs Oberbürgermeister Ulrich Markurth (SPD) einen Brief an den damaligen Vorstands-Chef der Deutschen Bahn, Rüdiger Grube. Auch Hildesheim startete eine Initiative, um die ICE-Strecke zu sichern. Die Bahn garantierte jeweils, dass alles beim Alten bleibt. Wie nun die Aussagen Bischopings zeigen, ist die Zusage der Bahn aber nicht in Stein gemeißelt.

Markurth betonte bereits vor einem Jahr: „Die ICE-Linie ist ein wesentliches Element der überregionalen Anbindung unserer Region. Für uns als Wirtschaftsstandort, Wissenschaftsstadt, Kongresszentrum und zentrales Oberzentrum in der Region ist der zuverlässige Stundentakt in jede Richtung ein wichtiger Standortfaktor.“

Ex-ADAC-Regionalchef Manlik sieht es ähnlich: „Hält der ICE nicht mehr in Braunschweig und hat auch Wolfsburg eine ICE-Verbindung weniger, hätte das negative Folgen für den zweitgrößten Wirtschaftsraum nach Hamburg.“ Die Region müsse um die ICE-Verbindung zwischen Berlin und Frankfurt sowie weiter Richtung Süden kämpfen. „Wehret den Anfängen“, sagt er.

Eine „erhöhte Aufmerksamkeit“ der Akteure in unserer Region fordert auch Hennig Brandes, Direktor des Regionalverbands Braunschweig, ein. Man dürfe nicht so naiv sein und glauben, dass die ICE-Strecke über Braunschweig und Wolfsburg auf ewig gesetzt sei, falls die Bahnfahrer ausblieben – gerade vor dem Hintergrund der neuen Strecke über Erfurt.

Björn Gryschka vom Fahrgastverband Pro Bahn bezeichnet die ICE-Strecke durch unsere Region als „etabliert“. Auch er aber sagt, dass man abwarten müsse, was passiert. Wie Bahn-Manager Bischoping sieht Gryschka genug Potentzial zwischen Wolfsburg und Kassel, so dass sich die Strecke auch weiterhin für die Bahn rechne. „Das ist ein Einzugsgebiet von mehr als zwei Millionen Menschen“, sagt Gryschka.

Der neue, ab Mitte Dezember gültige Fahrplan steht zwar erst im Oktober fest. Schon jetzt lasse sich laut der Deutschen Bahn aber einiges benennen. So soll das nahezu stündliche Angebot zwischen Berlin, Wolfsburg, Braunschweig und Frankfurt weiter Richtung Süden bestehenbleiben. Es gibt zwar eine neue Nummerierung der Linien, für die Bahnfahrer ändere sich aber wenig. Am Abend soll es – Stand jetzt – je Fahrtrichtung einen zusätzlichen Zug geben, dafür wird in der eher nachfragearmen Mittagszeit ein Zug je Richtung entfallen. Der Freitag soll davon ausgenommen sein. Genaues will die Bahn noch bekanntgeben.