Braunschweig. Beim Leserforum im BZV-Medienhaus diskutieren Experten über die Folgen von Arbeitslosigkeit. Sie fordern mehr Investitionen.

Unsere Leserin Angela Großhennig fragt beim Leserforum:

Habe ich mit 55 Jahren nicht mehr das passende Alter für den Arbeitsmarkt?

Die Antwort recherchierte Hannah Schmitz

Sie sei seit geraumer Zeit arbeitslos, erzählt Angela Großhennig auf dem Leserforum im BZV Medienhaus. Zwar habe sie 30 Jahre lang im Vertrieb gearbeitet, unter anderem auch als Vertriebsleiterin, doch nun finde sie keine Stelle mehr. „Ich habe wohl nicht mehr das passende Alter“, konstatiert sie. Und möchte einen Punkt machen: Es trifft nicht immer nur die Kleinen, die Unqualifizierten. „Wenn sich nicht noch einer erbarmt, brauche ich auch so einen prekären Job.“

„Ein System madig zu reden, das an sich funktioniert, vielleicht Korrekturbedarf hat, verstehe ich nicht.“
„Ein System madig zu reden, das an sich funktioniert, vielleicht Korrekturbedarf hat, verstehe ich nicht.“ © Florian Bernschneider, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands

Beim Leserforum ging es genau darum: Was passiert, wenn man nicht mehr von seiner Arbeit leben kann? Welche Folgen hat Arbeitslosigkeit? Der geschäftsführende Vorstand der IG Metall, Hans-Jürgen Urban, der Hauptgeschäftsführer vom Arbeitgeberverband Braunschweig, Florian Bernschneider, und die Braunschweiger Sozialdezernentin Andrea Hanke suchten am Montagabend mit dem Moderator Armin Maus, Chefredakteur unserer Zeitung, nach Antworten.

„Das Alter ist auf dem Arbeitsmarkt ein Handicap“

„Ich kann Ihnen jetzt leider keinen Arbeitsplatz anbieten“, sagte Urban. Ihr Fall zeige jedoch, wie sehr die Gesetzgebung in die Gesellschaft hineinwirke und auch qualifizierte Arbeitnehmer treffe. Ihr Alter bezeichnete er als „Handicap“ und erntete damit einen kritischen Blick von seiner Sitznachbarin, Sozialdezernentin Andrea Hanke. „Ich nutze den Begriff eindeutig in Anführungszeichen, aber auf dem Arbeitsmarkt ist es leider so“, erklärte er. Er hoffe, dass in Unternehmen bald ein Umdenkprozess stattfinde und diese pfleglicher mit dem vorhandenen Personal umgingen, auch in Hinblick auf einen Fachkräftemangel.

„Wir müssen als Gesellschaft mehr Haltung zeigen, den Bedarf anderer sehen.“
„Wir müssen als Gesellschaft mehr Haltung zeigen, den Bedarf anderer sehen.“ © Andrea Hanke, Sozialdezernentin der Stadt Braunschweig

Für Hanke hingegen wollte das Alter und der Begriff Handicap einfach nicht zusammenpassen. „Wir haben bei der Stadt viele Bewerbungen von Über-50-Jährigen. Wenn die Qualifikation da ist, ist das für mich kein Grund die Person nicht einzustellen“. Persönlich bedauere sie die Situation der Leserin sehr, sagte Hanke.

Ein Hoffnungsschimmer keimte auch mit Bernschneiders Antwort auf: Obwohl Großhennig darauf hinwies, dass sie hier nicht auf Arbeitssuche sei, schlug sie das Angebot des Geschäftsführers des Arbeitgeberverbands, ihm ihre Bewerbungsunterlagen zukommen zu lassen, natürlich nicht aus: „Dann würde ich mich mal an Sie wenden“, sagte sie.

Bernschneider erläuterte, dass er es zunehmend erlebe, dass die Mitglieder seines Verbands explizit Älteren versuchten, einen Weg in den Betrieb zu ebnen. „Die gelten als zuverlässig, schleppen sich auch mal mit einem Schnupfen zur Arbeit“, so der 30-Jährige.

„Die Rhetorik-Keule macht tot, was vielleicht modern ist“

Zu Beginn der Veranstaltung hatte der IG-Metaller Urban, der auch im Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg sitzt, seine Positionen zum Thema in einem Vortrag verdeutlicht. Darin forderte er, dass sich die Politik weniger an Statistiken und Durchschnittzahlen orientieren sollte. „Es heißt immer: Alles ist super, wir sind zum Beispiel Weltmeister im Export. Davon merken aber ganz viele nichts.“ Um das zu ändern, müsse etwa der Arbeitsmarkt dereguliert werden. Die Agenda 2010, so Urban, habe zur Prekarisierung der Gesellschaft entscheidend beigetragen, Menschen würden „dauersubventioniert“. Für ihn führe kein Weg daran vorbei, dass die Hartz-IV-Gesetze reformiert würden. „In der Arbeitsgesellschaft gibt es eine Angst vor dem Absturz ins Hartz-Regime“, sagte der Frankfurter.

Bernschneider, der beim Publikum einen schweren Stand hatte und im Gegensatz zu Urban und Hanke kaum Beifall ernten konnte, widersprach dem IG-Metaller. Er halte nichts davon, ein System madig zu reden, das an sich gut funktioniere. „Viele der Analysen teile ich so nicht. Tatsächlich steigen die Beschäftigungszahlen, die Mini-Jobs sind seit 2003 konstant“. Besonders beklagte der Arbeitgeber-Geschäftsführer, dass Urban und die IG Metall stets von atypischer Beschäftigung im Zusammenhang mit prekärer Arbeit sprechen würden. Das seien jedoch auch Teilzeitanstellungen, die etwa gewollt seien, oder Zeitarbeit, die gewollt sei. „Diese Rhetorik-Keule von atypischer Beschäftigung macht tot, was vielleicht gut und modern ist.“ Das gelte aber nur für eine Minderheit, etwa hochqualifizierte Ingenieure, versetzte Urban und erntete erneut viel Beifall.

In einem Punkt waren sich die konträren Arbeitsmarktexperten sowie Sozialdezernentin Hanke aber einig.

„Das Geld der öffentlichen Hand muss umverteilt werden“

Hanke, die 2015 von Münster nach Braunschweig kam und hier für das Sozial-, Schul-, Gesundheits- und Jugenddezernat verantwortlich ist, forderte eine Umverteilung der öffentlichen Gelder. „Ich wünsche mir, dass das Geld der öffentlichen Hand umverteilt wird, dass die Kommunen das Geld in die Hand bekommen und Projekte nicht nach einem Testlauf wieder aufhören. Wir brauchen keinen Bund, der uns sagt, wie wir das Geld ausgeben sollen“, so Hanke.

Generell fordert sie, dass die Politik bereit ist, mehr in Kitas, Kindergärten und Schulen zu investieren. „Wir haben an diesem Standort eine sehr hohe Forschungsdichte, aber im Grunde arbeiten wir in den Schulen noch mit Rechenschiebern.“ Bernschneider unterstützte das: „Investitionen können auch eine sehr positive Rendite haben, etwa im Bereich Bildung oder beim Ausbau vom Glasfasernetz“, sagte er. Chefredakteur Maus hakte auch bei Urban nach, der an Hochschulen doziert: „Verfällt das öffentliche Eigentum?“ Urban konnte das nur bejahen und beklagte dann die Schwarze-Null-Politik des Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble: „Wir vererben Straßen, Schulen und Unis, nicht nur Konten der Fiskalpolitik.“

Bernschneider, der vor dem Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag dort als Bundestagsabgeordneter für Braunschweig saß, thematisierte die Entkoppelung von Berliner Politik und erlebter Wirklichkeit. „In Berlin geht es um Maut und Mütterrente, Zuhause sind Schlaglöcher, die Schultoiletten, und dass man kein Netz hat, Themen.“ Es brauche eine Erdung an Themen. Dem schloss sich auch Urban an: „Die Kluft wird immer größer“. Die Politik müsse sich auch, was Arbeitsmarktstatistiken angehe, mehr an die Lebenswirklichkeit der Bürger halten.

Das Thema Qualifizierung einte die drei Podiumsteilnehmer. Bernschneider etwa betonte, wie wichtig es für den Standort Deutschland sei, ein hohes Qualifizierungs-Niveau bei Mitarbeitern zu haben. Urban war sogar der Meinung, dass die deutsche Wirtschaft nur als High-Quality-Wirtschaft überleben wird. Hanke forderte, dass man diese Qualifizierung und Förderung schon im frühkindlichen Bereich beginne. Es gelte, jeden Einzelnen in den Blick zu nehmen.

Dafür erhielt sie viel Zustimmung von Leser Horst Vergin. Der schloss weiter an das Thema Altersarmut an: „Meine Friseurin ist nun in Rente, hat 50 Jahre gearbeitet, ein Kind und bekommt 896 Euro.“ Prekär, so der Leser, heiße auch erbärmlich. Urban hatte zuvor gefordert, das Rentenniveau zu erhöhen. Die Kosten des Wohnens seien dabei im Alter ein Top-Thema, so Urban.

In Braunschweig ist der Wohnungsbau im vollen Gange. Investoren für einen sozialen Wohnungsbau zu finden, berichtet Sozialdezernentin Hanke, sei aber „ungemein schwierig“. Zum einen äußerte sie Verständnis für Investoren, die wegen fehlender Förderprogramme keine direkten Gewinne schöpfen könnten und daher ihre Wohnungen anderweitig loswerden würden. Andererseits stellte sie grundsätzlich die Frage: „Müssen wir als Gesellschaft nicht auch über Haltung nachdenken? Es muss auch Menschen geben, die sehen, hier Bedarf.“

Das Publikum honorierte die Podiumsteilnehmer und Moderator Maus mit viel Applaus. IG-Metall-Mann Urban versprach: „Ich gehe noch engagierter aus dieser Runde raus.“