Braunschweig. Orakel 2017: Kulturexpertin Pfleger glaubt an die Freiheit in der Autostadt und ein hellwaches Dornröschen im Herzog-Anton-Ulrich-Museum.

Neue Intendantin, neue HBK-Präsidentin, dazu Documenta-Jahr und die AfD mit ihren avantgardekritischen Slogans vor der Tür – 2017 könnte für die Kultur in unserer Region neue Farben und Linien bringen. Im Interview mit der Kulturredaktion blickt Susanne Pfleger, Direktorin der Städtischen Galerie Wolfsburg, auf die Kulturereignisse des angelaufenen Jahres voraus.

Im Sommer übernimmt Dagmar Schlingmann als Generalintendantin das Braunschweiger Staatstheater. Die erste Inszenierung eines neuen Intendanten ist stets ein programmatisches Statement. Welches Stück/welche Oper wird sie als erstes inszenieren? Welche Richtung wird sie ästhetisch nehmen; wieder mehr erzählerisch inszeniertes Theater oder vor allem performative Ansätze?

Barbara Schlingmann hat in Saarbrücken, wo wir sie hergeholt haben, ein sehr engagiertes Programm entwickelt. In Zusammenhang mit einer Inszenierung des „Rigoletto“ in der Völklinger Hütte habe ich von ihrer Arbeit gelesen. Von daher bin ich gespannt auf die Open-Air-Aufführungen auf dem Burgplatz, einem ebenfalls ungewöhnlichen und besonderen Ort. Dort wird im nächsten Sommer das Musical „Hairspray“ gespielt werden, doch hat Barbara Schlingmann für 2018 wieder eine Oper angekündigt.

Vielleicht startet sie im Musiktheater mit einer Verdi-Oper und im Schauspiel mit einem Stück von Bertolt Brecht. Sie hat ja auch noch eine neue Operndirektorin, die gebürtige Braunschweigerin Isabel Ostermann, und einen neuen Generalmusikdirektor, den Serben Srba Dinic, an ihrer Seite. Da dürfen wir auf neue Akzente gespannt sein. Sicher wird sie neben dem klassischen Repertoire experimentelle Projekte in Angriff nehmen, und sie wird wie alle, die mit Kunst arbeiten, nach einem der aktuellen Zeit gemäßen Ausdruck suchen.

Die Wolfsburger Autostadt hat als neues Jahresthema „Freiheit“ ausgegeben, einer der vielschichtigsten Begriffe der Politik und Philosophie. Welche Texte werden dabei sein, welche Stars, welche Choreographen?

Das Thema Freiheit ist in der Tat vielschichtig, zudem außerordentlich virulent und präsent in der öffentlichen Debatte. Die Auswahl der Stars und Choreographen überlasse ich dem Geschick des künstlerischen Leiters der Movimentos Festwochen, Bernd Kauffmann, um dafür auf Auseinandersetzungen mit dem Thema Freiheit außerhalb der Autostadt hinzuweisen.

Im Rahmen der „documenta 14“, die 2017 wieder in Kassel ansteht, lädt der künstlerische Leiter Adam Szymczyk bereits seit diesem Herbst zu „34 Freiheitsübungen“ nach Athen ein.

Noch bis Mitte Januar 2017 zu sehen ist die Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg „Im Käfig der Freiheit“, und dauerhaft wird im Schloss Fallersleben das Werk des Freiheitsdichters Hoffmann von Fallersleben gewürdigt. Auch das Kunst- und Kulturprogramm „unserer“ Landesvertretung Niedersachsen in Berlin widmet sich 2017 dem Freiheitsbegriff. Es gilt heute mehr denn je, darüber nachzudenken und zu erörtern, was wir mit Freiheit verbinden und wie sie uns täglich ein bisschen mehr genommen wird.

Das Herzog-Anton-Ulrich-Museum ist glanzvoll wiedereröffnet worden, der Andrang ist groß. Wann wird das Museum wieder in den Dornröschen-Schlaf sinken?

Da das Herzog-Anton-Ulrich-Museum über Meisterwerke von Weltrang verfügt, wird es stets Relevanz im musealen Ranking besitzen, zweifellos zählt es zu den besten Museen in Deutschland. Das neue Konzept beinhaltet nicht nur eine Neupräsentation der Werke, sondern auch eine Medienstrategie, die die direkte Ansprache und den Austausch mit dem Publikum in den Fokus rückt.

So ist das Herzog-Anton-Ulrich-Museum fit für die Herausforderungen unserer Zeit. Die Präsentation der einzigartigen Grafikbestände setzt Maßstäbe und zeigt, welche Bedeutung diesem Medium in unserer Region und weit darüber hinaus zukommt – wie ja auch bei dem alljährlichen Wochenende der Grafik, an dem viele Institutionen der Region teilnehmen, deutlich wird. Ich bin sicher, dass es keiner noch so trickreichen Figur aus der Grimmschen Märchenwelt gelingen wird, das neue Herzog-Anton-Ulrich-Museum in den Dornröschen-Schlaf zu schicken.

Wird sich die höchst umstrittene Wahl des Museumsmannes Chris Dercon zum Intendanten der Berliner Volksbühne als Nachfolger von Frank Castorf positiv oder negativ auf die Bühne, die Stadt und das Theater generell auswirken?

Vielleicht zunächst eine kurze Anmerkung zum „Museumsmann“ Dercon. Chris Dercon hatte in den letzten Jahren die Leitung von Ausstellungshäusern wie dem Haus der Kunst oder der Tate Modern inne, von seiner Ausbildung her und im Verlauf seiner beruflichen Laufbahn gibt es aber immer wieder Verbindungen zu den darstellenden Künsten.

Stets hat er sein Ohr dicht am Zeitgeist. Die Zukunft der Kunst, wie sie die Avantgarden antizipierten und welche von den Dercon-Gegnern vehement verteidigt wird, ist nicht mehr per se gegeben. Schon lange verschwimmen die Grenzen zwischen den Genres. Einer der bekanntesten Grenzverwischer zwischen Theater, Film und bildender Kunst, Christoph Schlingensief, startete seine Laufbahn übrigens als Theaterregisseur an der Volksbühne(!), 2011 erhielt er posthum den Goldenen Löwen für die Gestaltung des Deutschen Pavillons auf der Kunstbiennale von Venedig.

Ich halte es daher für eine ästhetisch zukunftsweisende Entscheidung, Chris Dercon die Intendanz der Volksbühne anzuvertrauen. Leider wurde diese Personalentscheidung schlecht kommuniziert und die Betroffenen offensichtlich weder einbezogen, noch mitgenommen. Die angeregte oder vielmehr erregte Diskussion um diese Personalie bringt der Volksbühne hohe Aufmerksamkeit. Die extreme Schärfe allerdings, mit der sie geführt wird, könnte Berlins Ruf als weltoffene, inspirierende und kosmopolite Kulturstadt ramponieren.

Anfang des Jahres übernimmt Vanessa Ohlraun die Leitung der Hochschule für bildende Künste (HBK) in Braunschweig. Wann wird es ihr zum ersten Mal gelingen, mit einer Aktion die Aufmerksamkeit der Bürger für die HBK zu gewinnen? Welche Aktion wird das konkret sein?

Das wird der Rundgang im Juni 2017 sein. Zum Abschluss des Sommersemesters öffnet die Hochschule wie jedes Jahr die Ateliers und Werkstätten und bietet den Besuchern aus der ganzen Region Einblicke sowie ein reichhaltiges Veranstaltungsprogramm. Alle Studiengänge der Bereiche Kunst, Design, Wissenschaften präsentieren ihre Arbeit. Und im nächsten Sommer wird das ein ganz besonderer Rundgang – darauf freue ich mich schon sehr.

Falls es wider Erwarten wieder nicht Adonis wird: Wer bekommt 2017 den Literatur-Nobelpreis?

Sie müssen zugeben, ich bin 2016 knapp vorbeigeschrammt mit meinem Orakel. Adonis war wie immer ein heißer Kandidat. Und er bleibt mein Lieblingskandidat, auch wenn eine Verleihung nun wohl nicht mehr kommen wird. Ich passe.

Wer bekommt 2017 den Raabe-Preis der Stadt Braunschweig?

Sabine Gruber für den Roman „Daldossi oder Das Leben des Augenblicks“.

Wird es nach der Bundestagswahl einen regulären Bundeskulturminister geben?

Der Deutsche Kulturrat fordert schon seit einiger Zeit einen Bundeskulturminister. Ich glaube nicht, dass es gelingen wird, ein eigenes Ministerium für Kultur einzurichten, die Bundesländer werden auf ihrer Kulturhoheit beharren. Die Frage bleibt, ob denn ein Bundeskulturminister es schaffen würde – wie schon seit langem in den Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags angemahnt – Kultur endlich zur Pflichtaufgabe zu erklären.

Wird das zu erwartende Erstarken der AfD das kulturelle Klima verändern? Wie?

Im Grundgesetz ist verankert: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Laut Bundesverfassungsgericht ist es verboten, „auf Methoden, Inhalte und Tendenzen der künstlerischen Tätigkeit einzuwirken, den künstlerischen Gestaltungsraum einzuengen oder allgemeinverbindliche Regeln für diesen Schaffungsprozess vorzuschreiben“. Das Grundrecht der Kunstfreiheit reicht bis in den Bereich der Medien, die die Kunst veröffentlichen und vermitteln. Auf dieser Basis wurden und werden die Kulturvorstellungen – egal von welcher politischen Richtung sie kommen mögen – getragen.

Unser Leser Heinrich Wilkens aus Braunschweig fragt: Die Preise beim Kunstmarkt explodieren – Kunst als Geldanlage. Geht das so weiter, oder beschleunigt sich dies sogar?

Solange die Chance auf Wertsteigerung beim Kunstkauf höher ist als bei Spareinlagen, wird sich dieser Trend fortsetzen, und so lohnt sich sogar für den Normalverdiener der Kauf beispielsweise einer Edition – die Kunstvereine der Region, die Städtische Galerie Wolfsburg, aber auch die HBK bei ihrem alljährlichen Kunstmarkt, halten hier interessante Angebote bereit. Kunst hat es aber nicht verdient in erster Linie als Geldanlage erworben zu werden, da sie viel mehr als nur finanziellen Gewinn zu bieten hat. Und es ist ja gerade der ideelle Wert, der die Käufer dazu veranlasst, sehr reelle und sehr hohe Summen für Kunst auszugeben. Interessant ist, dass zunehmend Gegenwartskunst zum Spekulationsobjekt wird. Der Wert der gehandelten Werke ist hier noch nicht kanonisiert, und der Kauf ist eine Wette auf die zukünftige Entwicklung. In keiner Anlageform herrscht eine so große Unsicherheit über den Wert der gehandelten Objekte, dennoch bleibt der Run auf die Kunst ungebrochen. Es geht also so weiter.

Zur Person

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Susanne Pfleger studierte europäische Kunstgeschichte, Romanistik und Musikwissenschaft an den Universitäten Heidelberg und Reims.

1990 Promotion, 1991–1993 Mitarbeit am Forschungsprojekt „Die Kirchen von Siena“ des Kunsthistorischen Instituts in Florenz.

1993–1997 Kustodin an der Städtischen Galerie Wolfsburg, seit 1997 deren Direktorin. Sie lehrt zudem als Honorarprofessorin für Kunstmanagement an Burg Giebichenstein der Kunsthochschule Halle.