Berlin. Wölfe können jetzt vorsorglich getötet werden – zum Schutz der Bürger. Dabei gab es bisher keinen Angriff. Woher kommt die Angst?

Vanessa Ludwig kennt viele, die die Angst vor dem Wolf umtreibt. Bei ihr in der „Fachstelle Wolf“ in der Lausitz rufen Menschen an, die ihre Kinder nicht mehr im Wald spielen lassen. Manche, die nicht mehr zum Joggen gehen. Wieder andere, die um ihre Schafe fürchten und sich zu Mahnwachen treffen. Gleichzeitig warnt die Initiative „Wolf, nein Danke“ vor dem „Gefressenwerden“.

Die Ängste sind so groß, dass es das Tier bis in die Wahlkämpfe der kommenden Landtagswahlen geschafft hat – und einen monatelangen Streit in der großen Koalition auslöste.

Seitdem ist es einfacher geworden, den Wolf abzuschießen. In Zukunft kann er auch dann getötet werden, wenn unklar ist, welches Exemplar der „Problemwolf“ ist. Die Tiere können damit in einer Gegend so lange geschossen werden, bis kein Schaf mehr angefallen wird – auch wenn dafür ein ganzes Rudel dran glauben muss.

Zum „besseren Schutz der Bürger in Regionen, wo Wölfe schon dicht an die Wohngebiete herankommen“, heißt es dazu aus dem Landwirtschaftsministerium. Und das, obwohl es hierzulande keinen einzigen Angriff auf den Menschen gegeben hat, seitdem sich die Tiere vor 20 Jahren wieder in Deutschland angesiedelt haben. Woher kommt sie also, die große Angst vor dem Wolf?

Die Angst vor dem Wolf steckt tief in uns drin

„Sie steckt tief in uns drin“, so Petra Ahne, die ein Buch über seine Kulturgeschichte geschrieben hat. „Bei uns war der Wolf fast immer böse, vor allem seitdem wir Nutztiere halten. Er war so ‚frech‘, uns in die Quere zu kommen, unsere Tiere als Beute zu sehen – und die Grenze zu dem zu überschreiten, was der Mensch als ‚Seins‘ betrachtet“.

„Die große Wolfsangst entstand aber erst während des Dreißigjährigen Krieges, als Europa in Gewalt versank“, sagt Roland Borgards, der sich an der Universität Frankfurt ebenfalls mit der Geschichte des Wolfs beschäftigt. Viele Augenzeugenberichte aus dieser Zeit erzählten davon, wie die Wölfe den Feldzügen und Schlachten hinterhergezogen sind, die Vorräte gefressen haben. Wie sie sich in halbverlassenen Dörfern eingenistet und über die Leichen der Kriegsopfer hergemacht hätten.

Er stand für das Fremde, vor dem man sich schützen müsse

„Daraus wurden viele Geschichten um den Wolf gesponnen. Aus ihm wurde ein politisches Feindbild, durch das die Menschen damals von staatlicher Ordnung überzeugt werden sollten“, so der Professor für Deutsche Literatur. Soll heißen: Der Wolf stand in den Erzählungen für die Unordnung, für das Fremde, vor dem man sich schützen müsse.

Gegen dieses Chaos, so die Idee, helfe dann nur die starke staatliche Hand. Der Wolf wurde demnach weniger gejagt, um tatsächlich die Weidetiere vor ihm zu schützen. Die Fürsten hätten dadurch ein politisches Zeichen setzen wollen. Der Wolf habe sich dafür besonders angeboten. Er tritt als Meute auf und hat einen Anführer.

Auch das „Tierische“ im Menschen wurde ihm zugeschrieben

Auch das Unheimliche im Menschen selbst schrieb man ihm zu. Die Bevölkerung „schlachtete“ sich demnach während der Kriegsjahre vor allem ab, wenn das Tierische, das Wölfische in ihnen durchbreche. „DieGeschichten vom Werwolfhatten zu dieser Zeit Hochkonjunktur. Mensch und Tier vermischten sich plötzlich miteinander “, sagt Borgards.

Was der Wolf in Mitteleuropa, ist der Löwe in Afrika, der Tiger in Indien. Viele Kulturen haben ein Tier, an denen Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens erzählt werden. Der Wolf hat dennoch eine Sonderstellung. „In Europa ist das Staatengefüge besonders früh entstanden, die Ängste wurden durch die Fürsten besonders geschürt. Wer weiß, was anders gelaufen wäre, ohne die Wölfe“, sagt Borgards.

Bild der „menschenfressenden Bestie“ steckt in vielen bis heute

Und heute? „Als die Tiere zurückkehrten, sind die alten Schrecken wieder hochgekommen“, so Schriftstellerin Ahne. Die seien in unserer Kultur gespeichert, fortgetragen durch Märchen wie Rotkäppchen, den sprichwörtlichen Wolf im Schafspelz oder Michael Jacksons Werwolf in „Thriller“. Heute seien die Ängste aber oft diffuser, sagt Ahne. Nur die wenigsten hätten die Tiere bisher in freier Natur gesehen. „Das macht sie erneut zur guten Projektionsfläche.“

„Das Bild der ‚menschenfressenden Bestie‘ steckt in vielen bis heute drin“, weiß auch der Biologe Marco Heurich von der Universität Freiburg. Hier spiele auch ein psychologisches Phänomen hinein, durch das die Gefahren seltener Ereignisse überschätzt werden, wenn die starke Emotionen hervorrufen. Der Bär etwa sei viel gefährlicher und könne auch bald nach Deutschland kommen. Der werde jedoch oft als süß empfunden. „Den kennt jeder als Teddybär aus seiner Kindheit.“

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    1600 gerissene Weidetiere im letzten Jahr

    Natürlich, so Heurich, gibt es daneben auch eine rationale Angst. Die Angst um die eigenen Schafe und Ziegen auf der Weide. Im vergangenen Jahr hat es etwa 1600 Tiere getroffen. „Das ist für die Viehhalter nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine emotionale Belastung.“

    Jeder, der schon mal vom Wolf angefallene Tiere gesehen hat, könne das nachvollziehen. Marco Hilwert von der Initiative „Wolf, nein Danke“ wird drastischer: „Wölfe fressen ihre Beute noch lebend“, indem sie „die Bauchdecke aufreißen und die Eingeweide herausquellen“.

    Verhaltenstrainings für die Wölfe

    Gegen diese berechtigte Furcht lasse sich jedoch einfach etwas tun, sagt Biologe Heurich. „Man muss dafür sorgen, dass Nutztiere noch seltener gerissen werden.“ Auch, wenn die ohnehin weniger als ein Prozent der Beute ausmachten. Elektrozäune und Hunde auf den Weiden etwa, könnten die Herden noch besser schützten.

    Oder auch Verhaltenstrainings bei den Wölfe selbst. Versuche im Yellowstone Nationalpark in den USA hatten gezeigt, dass Gummigeschosse und Knallkörper helfen, um die Wölfe von den Besuchern fernzuhalten.

    „Vieles wird verhandelt, was nichts mit dem Tier zu tun hat“

    „Egal, ob begründet oder unbegründet – die Ängste der Leute müssen ernst genommen werden“, sagt Diana Pretzell von der Naturschutzorganisation Worldwide Fund for Nature (WWF). Sie glaubt, in der Debatte werde vieles verhandelt, was mit dem Tier selbst nichts zu tun habe.

    Wirtschaftliche Ängste oder das Verhältnis zwischen Stadt und Land etwa. Nicht umsonst würden Begriffe fallen, die an andere gesellschaftliche Diskussionen erinnerten. „Obergrenze“, „unkontrolliert“ auf der einen Seite, „willkommen heißen“ auf der anderen.

    „Wir müssen wieder sachlicher werden und das Image der Tiere geraderücken. Die Tiere also wieder unideologisch als biologische Art sehen, die als Raubtiere eine wichtige Rolle in den Wäldern übernehmen.“ Für weniger Ideologie spricht sich auch Wolfsgegner Hilwert aus. Viele Menschen glaubten durch „Akzeptanzkampagnen“ an „das Gute im Wolf“. Das sei jedoch ein „widerlegtes Wunschdenken“.

    „Mit den Jahren sind die Leute gelassener geworden“

    Vanessa Ludwig von der Lausitzer Wolfsberatungsstelle ist trotz der vielerorts aufgeladenen Stimmung optimistisch. „Hier in der Region leben wir schon am längsten mit den neuen alten Nachbarn. Mit den Jahren sind die Leute gelassener geworden, sogar in den Waldkindergärten.“

    Dort, wo die Tiere neu auftauchten, seien die Unsicherheiten groß, die „Urängste“ kämen auf. Sobald sich ein Rudel jedoch etabliert habe und sich die Viehhalter mit Zäunen und Hunden ausgerüstet hätten, ebbe das meist ab. Dann, so Ludwig, würden die Emotionen der Bewohner häufig sogar umgeschlagen. In Stolz auf ihre Natur.

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    Hintergrund: So gefährlich ist der Wolf für den Menschen wirklich

    Welche Gefahr vom Wolf für den Menschen wirklich ausgeht, zeigt der Blick auf die Zahlen: Etwa tausend Tiere in 73 Rudeln leben inzwischen laut Bundesamt für Naturschutz in Deutschland. In ganz Europa sind es mehrere zehntausend. Zwischen 1950 und 2002 sind europaweit neun Menschen durch einen Wolf ums Leben gekommen. „Die Tiere waren aber entweder angefüttert oder hatten Tollwut“, erklärt Marco Heurich.

    Tollwut sei hierzulande ausgerottet. Auch der Wolf, der im Dezember 2018 einen Mann in Niedersachsen gebissen haben soll, entpuppte sich nach der DNA-Analyse als Hund. Im Vergleich: Jedes Jahr sterben in Deutschland 3000 Menschen an Verkehrsunfällen, 400 durch Ertrinken, acht durch Blitze, vier durch Hunde. Selbst durch Wildschweine kommen mehr Personen ums Leben. „Der Wolf sieht den Menschen nicht als Beutetier. Ansonsten hätte es längst Übergriffe gegeben“, so Heurich.