Hamburg. Viel Abstand zueinander, nur Sitzplätze, kein Tanzen und Mitsingen. Das Reeperbahn-Festival zeigt, wie Live-Musik in Corona-Zeiten unter Einhaltung aller Regeln aussehen kann. Und obwohl sich viele über die Events in den Clubs freuen, kommt nicht überall gute Stimmung auf.

Die Bässe dröhnen wummernd durch den Raum. Nebelmaschine und Lichtanlage laufen auf Hochtouren. Im bekannten Szene-Club "Uebel & Gefährlich" im Hamburger Feldstraßenbunker wird nach monatelanger Corona-Zwangspause endlich wieder Live-Musik gespielt.

Auf der Bühne steht die britische Band Koko. Der Auftritt im Rahmen des Reeperbahn-Festivals ist anders als sonst. Wo der Sänger sonst kopfüber in die Massen taucht, sitzen diesmal nur rund 50 Leute auf Stühlen vor ihm. Üblicherweise passen mehrere hundert Menschen in den Club.

Das Reeperbahn-Festival steht in diesem Jahr im Zeichen der Corona-Pandemie. Während viele andere Konzerte und Veranstaltungen vorsichtshalber oder auch aus wirtschaftlichen Gründen abgesagt wurden, haben der Veranstalter und die Stadt Hamburg das Club-Festival mit viel Geld am Leben gehalten. Denn das Festival soll ein Testballon für alle kleineren und mittleren Spielstätten sein. Es soll zeigen, ob unter diesen Bedingungen Live-Musik überhaupt Spaß macht.

Dass sie trotz aller Regeln möglich ist, hat der erste Abend gezeigt. Doch Live-Musik ist nicht nur mit deutlich mehr Aufwand und Kosten verbunden. Sie muss auch enorme Abstriche bei der Atmosphäre hinnehmen. Vor allem Konzerte in Clubs leben nun mal davon, dass zum Nebenmann kaum Platz ist und gemeinsam geschwitzt und getanzt wird. Nun sitzen die Nachbarn mehr als eine Armlänge entfernt gesittet auf ihren frisch desinfizierten Klappstühlen. Man wippt gemeinsam mit dem Fuß, nickt zusammen mit dem Kopf. Tanzen verboten. Mitsingen auch.

Dabei kann trotzdem gute Stimmung aufkommen - wenn die Musik es möglich macht. Bei der britischen Band Koko im "Uebel&Gefährlich" klappt das gut. Was aber vor allem an der handwerklich gut gemachten Musik liegt. "Ich hätte gern getanzt", sagt Lilly Trautwein nach dem Konzert. Der 21-jährigen Hamburgerin fehlt "die Enge des Clubs und die Massenbewegungen". Gleichzeitig ist sie aber auch positiv überrascht: "Es war mehr Vibe da, als ich vorher gedacht hatte. Die Stimmung ist trotzdem rübergekommen, obwohl wir auf Stühlen saßen."

Auch die Band selbst ist nach dem Konzert glücklich. "Wir haben seit Januar nicht mehr gespielt, obwohl wir gerade ein neues Album rausgebracht haben. Wir finden es großartig, überhaupt wieder auftreten zu können", sagt Sänger Oliver Garland. Selbst der Bestuhlung kann er etwas abgewinnen. "Die Leute können so einfach sitzen und genießen, was ist. Es ist wie ein 'Zurück zur puren Musik'."

Bei Musik, die üblicherweise vor allem durch schwarzen Humor und leichten Klamauk auf der Bühne funktioniert, ist das allerdings deutlich schwieriger. Das zeigt der Auftritt der österreichischen Austro-Pop-Band Voodoo Jürgens wenig später im Gruenspan. Dort will der Funke nicht so recht auf das weit im Saal verstreute Publikum überspringen.

Hinter dem Reeperbahn-Festival 2020 steckt eine logistische Meisterleistung. Ein ausgeklügeltes Einbahnstraßen-System, etwa 600 Desinfektionsmittel-Spender an allen Ein- und Ausgängen, ein mobiles Check-In-System für die Kontakt-Nachverfolgung. Das stellt auch das Publikum durchaus vor Herausforderungen, die sich an jedem neuen Festivalort mit dem Mobiltelefon und ihren persönlichen Daten erst ein- und beim Verlassen wieder auschecken müssen.

Am ersten Abend scheint dennoch alles gut zu funktionieren. Sicherheitsleute (etwa 50 Prozent mehr als sonst üblich) weisen immer wieder geduldig und freundlich auf die Maskenpflicht bis zum Sitzplatz hin - auch auf dem Heiligengeistfeld muss Nase-Mund-Bedeckung getragen werden.

Dort ist eine große Bühne aufgebaut. Tanzen ist allerdings auch dort verboten. Die Musiker nehmen es mit Humor. "Ich hoffe, ihr friert nicht allzu sehr", sagt so beispielsweise ein Musiker der Band Bukahara in Richtung Publikum. Und schickt hinterher: "Sonst müsst ihr mehr trinken. Auf gar keinen Fall tanzen!"

Mehr als die Hälfte aller Musik des diesjährigen Festivals kommt im Freien auf die Bühne. Das auf 20 Spielstätten (sonst 50) eingedämpfte Festival wird zudem teilweise live gestreamt, der Teil für die Konferenzbesucher ist komplett digital. Statt wie sonst rund 50.000 Besucher insgesamt werden maximal 2500 pro Tag erwartet. Und ob die tatsächlich kommen, ist fraglich. Am ersten Abend wirken sowohl das Festivalgelände als auch die Straßen zu den Clubs erstaunlich leer.

Das viertägige Festival soll "ein Signal" an Branche und Publikum sein, sagten sowohl Festivalleiter Alexander Schulz als auch Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda (SPD) zuvor gebetsmühlenartig. Doch die gebeutelte Branche wird deutlich mehr als das brauchen. Wie eine vor Festivalbeginn vorgelegte Studie zeigt, erwartet die deutsche Musikwirtschaft wegen Corona in diesem Jahr einen drastischen Umsatzeinbruch. Die Akteure der Branche gehen von sieben Milliarden Euro oder knapp 29 Prozent weniger Umsatz aus als noch vor Corona erwartet. Ursprünglich war für das laufende Jahr eine Umsatzsteigerung von 23 Prozent erwartet worden. Besserung ist demnach erst 2021 in Sicht.

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