Berlin. Vitamin-D-Präparate werden viel beworben – denn jeder zweite Deutsche soll schlecht mit dem Vitamin versorgt sein. Doch stimmt das?

  • Apotheken nehmen Milliarden mit Vitamin-Tabletten und -Pulvern ein
  • Im Winter nehmen viele Deutsche zusätzlich Vitamin D ein
  • Lesen Sie hier, was die Wissenschaft dazu sagt

Jeder zweite Deutsche sei schlecht mit Vitamin D versorgt, heißt es in einer Fernsehwerbung. Prominent platziert zur besten Sendezeit. Und auch sonst wird mit ähnlichen Slogans fleißig für frei verkäufliche Vitamin-D-Präparate geworben.

Dass dies Wirkung zu haben scheint, zeigt eine aktuelle Auswertung des Unternehmens IQVIA, das den Pharmamarkt beobachtet. Demnach legte der Umsatz mit Nahrungsergänzungsmitteln in Deutschland in den vergangenen fünf Jahren in den Apotheken um durchschnittlich rund sechs Prozent pro Jahr zu und lag 2019 bei insgesamt 2,2 Milliarden Euro.

Mehr als die Hälfte entfiel den Daten zufolge dabei auf die Gruppe der Mineralstoffe und Vitamine. Und innerhalb dieser großen Gruppe kamen Vitamin A und D bereits an zweiter Stelle – mit einem Umsatz von 108,4 Millionen Euro. Das sind gut 15 Prozent mehr als noch im Vorjahr.

Vitamin-D-Speicher: Wie schlecht sind wir damit versorgt?

Doch warum dieser Hype ? Sind wir in Deutschland wirklich so schlecht mit Vitamin D versorgt? Braucht es Pillen, um das zu ändern? Laut Helmut Schatz, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie, eindeutig nein. „Viele reden von einem Vitamin-D-Mangel, wo es eigentlich keinen gibt.“

Er kennt den Artikel aus dem Jahr 2017, auf den sich der eingangs erwähnte Werbeslogan bezieht: „Vitamin D in Klinik und Praxis“ von Armin Zittermann und Stefan Pilz, zwei Medizinern, die sich für die ergänzende Vitamin-D-Einnahme starkmachen. Gemeinsam mit anderen Forschern haben die beiden auch eine Handlungsempfehlung zu Vitamin D publiziert. Sie raten etwa den Vitamin-D-Bedarf im Winter über Nahrungsergänzungsmittel zu decken.

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„Ein gesunder Mensch speichert genug Vitamin D“

Schatz sieht das anders: „Klar wird im Winter durch die geringere UV-B-Strahlung in der Tat weniger Vitamin D synthetisiert“, so der emeritierte Direktor der Bochumer Universitätsklinik Bergmannsheil, „aber ein gesunder Mensch, der im Sommer regelmäßig unverhüllt nach draußen geht, speichert genug Vitamin D, um über den Winter zu kommen.“ Und das laut Schatz ganz ohne irgendwelche Pillen .

Das sieht auch Antje Gahl so, Sprecherin der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Wie lange jeder letztlich von diesem Speicher zehren könne, ist sehr individuell, weiß die Ernährungswissenschaftlerin. „Aber im Grunde reicht das, was man in den Monaten März bis Oktober an Vitamin D aufnimmt, um über den Winter zu kommen.“

Natürlich nehme der Spiegel nach und nach ab, räumt auch Schatz ein. „Aber ein bisschen ist doch da.“ Außerdem habe ein definitionsgemäß echter Vitamin-D-Mangel nur bei längerfristig sehr niedrigen Werten negative Auswirkungen. So hat der Vitamin-D-Spiegel beispielsweise Einfluss auf Knochen und Zähne, auf die Muskelkraft und das Immunsystem.

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Ein Vitamin-D-Mangel wird über das Blut festgestellt

Um einen potenziellen Vitamin-D-Mangel festzustellen, wird die 25-Hydroxyvitamin-D-Serumkonzentration im Blut gemessen – eine Selbstzahlerleistung. Laut Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit muss der Wert unter 12 Nanogramm pro Milliliter beziehungsweise 30 Nanomol pro Liter liegen, damit ein erhöhtes Risiko für einen Vitamin-D-Mangel besteht. Für 99 Prozent der Bevölkerung sei ein Wert ab 20 Nanogramm pro Milliliter beziehungsweise 50 Nanomol pro Liter adäquat.

„Selbst wenn ein Labor den Vitamin-D-Spiegel als ‚erniedrigt‘ kennzeichnet, liegt meist noch gar kein Mangel vor“, betont Schatz. Hier müsse man sehr genau auf die Zahlen schauen und auch die wirtschaftlichen Interessen von Laboratorien und Pharmaindustrie im Hinterkopf haben.

Laut der sogenannten DEGS-Studie , einem Bestandteil des Gesundheitsmonitorings des Robert Koch-Instituts, aus dem Jahr 2017 sind etwa 30 Prozent der deutschen Bevölkerung mangelhaft mit Vitamin D versorgt. Allerdings handelt es sich hier um eine punktuelle Messung, die saisonalen Schwankungen unterliegen kann. Wichtig sei laut Schatz, die eigenen Werte im Falle eines gemessenen Vitamin-D-Mangels zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal gegenzuprüfen.

Er selbst steht einer Substituierung durch Vitamin-D-Präparate ohnehin sehr skeptisch gegenüber. Er rät dazu explizit nur bei Säuglingen, um einer Rachitis vorzubeugen, alten und bettlägerigen Menschen, Personen, die nur vollverschleiert in die Sonne gehen, an Osteomalazie – einer Knochenerweichung infolge einer chronischen Darmerkrankung – oder Nieren-Insuffizienz leiden. Schatz setzt es auch als Basistherapie zusammen mit Kalzium bei einer etablierten Osteoporose ein. Diese Indikation ist in letzter Zeit aber umstritten.

Forscher: Lieber Vitamin-D-Speicher natürlich auffüllen

Auch Gahl lehnt eine pauschale Vitamin-D-Einnahme ab, ist aber weniger strikt. Den Vitamin-D-Speicher natürlich aufzufüllen, sei aber die deutlich sicherere Alternative.

Thomas Dirschka vom Berufsverband der Deutschen Dermatologen dagegen befürchtet, „dass durch solche Aussagen die Hautkrebs-Epidemie in Deutschland vorangetrieben wird“. Schon jetzt verdopple sich die Zahl der Hautkrebs-Patienten alle zehn Jahre. Ein wichtiger Faktor sei hier unzureichender Sonnenschutz. „Da ist die Supplementierung mit Kapseln viel besser.“

Gerade durch die dauerhafte und unkontrollierte Einnahme von Vitamin-D-Präparaten könne es laut Gahl und Schatz aber zu einer Überdosierung kommen. Mögliche Folgen seien beispielsweise eine Störung des Kalzium- und Phosphathaushalts mit Nierenproblemen wie etwa Nierensteinen. „Wir raten wenn überhaupt zu Präparaten mit maximal 800 Internationalen Einheiten – kurz I.E. – pro Tag“, so Gahl. Das entspräche den empfohlenen 20 Nanogramm pro Milliliter. „Es gibt aber Präparate, die wesentlich höher dosiert sind, und das kann gefährlich sein.“

Auch aus diesem Grund sind sich alle drei Experten einig: Wer überlegt, Vitamin D einzunehmen, solle vorher in jedem Fall seinen Vitamin-D-Spiegel bestimmen lassen. Von einer pauschalen, unkontrollierten Einnahme raten sie ab.

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