Altdorf. Menschen mit Schwerbehinderung sind oft gut ausgebildet, finden aber schwerer Arbeit. Auch weil Unternehmen nicht wissen, wie die Inklusion gelingen kann. Wie lässt sich das ändern?

Wenn Eva Lenz zu ihrem Chef eine Etage über ihrem Arbeitsplatz am Empfang möchte, muss sie einen Umweg über den Hof machen. Mit Rollstuhl oder Gehhilfen kommt sie die schmale Treppe nicht hoch. Also fährt sie mit ihrem Rollstuhl zum Eingang des Nachbargebäudes, das einen Fahrstuhl hat und überwindet in der oberen Etage mit einem Treppenlift vier weitere Stufen.

Die Lösung sei nicht perfekt, gibt Firmenchef Jürgen Reitenspies zu. Eva Lenz scheint das aber nicht zu stören. Gut gelaunt macht sie sich auf den Weg zu dem Besprechungsraum auf der Chef-Etage. „Die Kollegen sind nett. Die Arbeit macht Spaß“, sagt sie und erzählt, wie es zu dem Arbeitsvertrag kam.

Schwerbehinderung war kein Hindernis

Dass ihre Schwerbehinderung dabei ein Hindernis sein könnte, das Gefühl habe sie von Anfang an nicht gehabt - auch wenn ihr Arbeitgeber, der Farben- und Lackhersteller ReiColor in Altdorf bei Nürnberg, dafür extra einen Treppenlift und Feststellanlagen für die Brandschutztüren einbauen musste.

„Das ist bei uns keine große Frage der Entscheidungsfindung gewesen“, sagt Reitenspies. In der Produktion arbeite bereits seit 20 Jahren ein Beschäftigter, der im Rollstuhl sitze. Als Familienunternehmer mit knapp 50 Mitarbeitenden sehe er auch eine soziale Verantwortung. Damit gehört der Chemiebetrieb zu der Minderheit der Unternehmen in Deutschland, die die gesetzliche Quote bei den Arbeitsplätzen für Menschen mit Schwerbehinderung erfüllen.

Ein Viertel beschäftigt keine Schwerbehinderten

„25 Prozent der Arbeitgeber, die eigentlich Schwerbehinderte beschäftigen müssen, beschäftigen keine“, sagt Christoph Beyer, Vorsitzender der Bundes­arbeits­gemein­schaft der Inte­grations­ämter. Die Hälfte der dazu verpflichteten Betriebe beschäftige zwar Menschen mit Schwerbehinderung, erfülle aber die vorgeschriebene Quote nicht - und diese Zahlen seien seit Jahren konstant, sagt er.

Fast 173.800 Menschen mit einer Schwerbehinderung waren nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit im Februar arbeitslos - und damit knapp 7300 mehr als ein Jahr zuvor. Aktuelle Zahlen zum Arbeitsmarkt stellt die Bundesagentur an diesem Donnerstag vor. Seit April vergangenes Jahres beobachten die Fachleute von der Aktion Mensch und vom Handelsblatt Research Institute, dass der wirtschaftliche Abschwung die Chancen von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt verschlechtere.

Trotz Fachkräftemangels schlechtere Chancen

„Diese werden aus unserer Sicht nicht in Betracht gezogen, obwohl sie gut ausgebildet sind“, sagt Christina Marx von der Aktion Mensch. Das heißt, dass Unternehmen trotz des Fachkräftemangels nicht nur auf potenziell fähige Beschäftigte verzichten, sondern auch noch draufzahlen: Betriebe, die keine oder zu wenig Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigen, müssen eine Ausgleichsabgabe an die Integrationsämter zahlen. Zum Anfang dieses Jahres wurde diese für Unternehmen erhöht, die gar keine der Pflichtarbeitsplätze besetzen.

Die Pflicht zur Beschäftigung Schwerbehinderter gilt stufenweise für Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigten. Unternehmen mit mehr als 60 Mitarbeitenden müssen fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze für Schwerbehinderte zur Verfügung stellen. Tun sie es nicht, müssen sie die Abgabe zahlen, die sich bislang zwischen 140 und 360 Euro pro nicht besetzten Schwerbehinderten-Arbeitsplatz monatlich bewegt und neuerdings bis zu 720 Euro betragen kann.

Welche Wirkung das hat, wird sich Beyer zufolge erstmals im kommenden Frühjahr sagen lassen. Seinen Erfahrungen nach geht es bei der Einstellung von Menschen mit Schwerbehinderung in der Regel aber nicht um Geld. Woran könnte es also dann liegen, dass Arbeitgeber zögern?

Angst, etwas falsch zu machen

„Vorbehalte sind die größten Hemmnisse“, erläutert Marx. Dazu zählten Ängste wie, dass Menschen mit Behinderung weniger leistungsfähig oder öfter krank seien, aber auch Unsicherheiten, wie man im persönlichen Kontakt mit der Behinderung umgehen solle oder dass man etwas falsch machen könne. „Aber das kann man nur abbauen, wenn man auf diese Menschen trifft“, meint Marx.

„Meine Chefin sagt immer, ich mache Pionierarbeit“, sagt Franziska Sgoff. Die 27-Jährige ist seit ihrer Geburt blind. Seit 2021 arbeitet sie bei Microsoft in München und berät Geschäftskunden dabei, wie digitale Technologien für mehr Barrierefreiheit sorgen können. „Ich habe das Gefühl, dass auf jeden Fall großes Interesse an dem Thema vorhanden ist. Ich glaube auch, dass viele Unternehmen Menschen mit Behinderung einstellen möchten, teilweise aber nicht wissen wie.“

Ansprechstellen sollen Lotsen sein

Ein wichtiger Hebel dabei sollen die Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sein, die 2022 bei den Integrationsämtern eingerichtet worden sind. Diese sollen Unternehmen begleiten, die Menschen mit Schwerbehinderung einstellen, indem sie zum Beispiel Unterstützung vermitteln oder bei den Anträgen helfen. „Sie koordinieren die einzelnen Bausteine“, erläutert Beyer. Und daran scheint es viel Interesse zu geben: „Die Arbeitgeberanfragen sind erfreulich hoch“, sagt Beyer. Erste aussagekräftige Daten dazu werden seinen Angaben nach voraussichtlich im Sommer vorliegen.

Dass die erhöhte Ausgleichsabgabe und die Ansprechstellen alle Unternehmen dazu bewegen, Menschen mit Behinderung anzustellen, glaubt Beyer nicht. „Das wäre realitätsfremd.“ Aber vielleicht bekommen dadurch mehr Menschen wie Eva Lenz oder Franziska Sgoff eine Möglichkeit, sich zu beweisen. Bei beiden jungen Frauen führte ein Praktikum zur Festanstellung, bei beiden kam dieses auf eigene Initiative zustande. „Da konnte ich zeigen, was ich kann“, sagt Sgoff. Auch andere Menschen mit Behinderung könnten so eine Chance bekommen, meint sie.