Berlin. Sie wissen nicht, wie es nach dem Brexit weitergeht: Millionen Bürger des Vereinigten Königreichs, die in der EU leben, sind unsicher.

Vielleicht hätte man ihnen zugehört, wären sie britische Rentner an der Costa del Sol gewesen. Die, sagt Jon Worth, seien die einzigen Briten im EU-Ausland gewesen, die in der Debatte über den Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus der EU überhaupt als Betroffene vorgekommen seien. „Leute wie ich haben in der Debatte vor dem Brexit keine Rolle gespielt“, sagt Worth, der seit 2013 in Berlin lebt und als Politik- und Kommunikationsberater arbeitet.

Dabei gibt es viele wie ihn, die die Freiheiten der EU genutzt und eines der 27 anderen EU-Länder zu ihrem Zuhause gemacht haben. Rund 1,24 Millionen Briten leben in einem anderen EU-Staat als dem Königreich. Umgekehrt gibt es etwa drei Millionen EU-Bürger in Großbritannien. Die britischen Rentner in Spanien sind nur ein Teil einer großen, heterogenen Gruppe. „Briten im Ausland studieren, arbeiten, lehren“, sagt Worth. „Der Brexit macht das Leben für uns viel komplizierter.“

Zukunft von Millionen Menschen ist unsicher geworden

Mit der Einleitung des Austrittsprozesses am 29. März ist die Zukunft vieler Menschen über Nacht unsicher geworden. Das Schicksal der in der EU lebenden Briten und der EU-Bürger in Großbritannien ist eine der großen ungeklärten Fragen beim Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus der Union. Ob und unter welchen Bedingungen sie bleiben können, ob sie arbeiten, sich selbstständig machen, studieren oder versichert sein können: All das ist bislang offen.

Jane Golding will das ändern, so schnell wie möglich. Golding, die ihre Zeit zwischen Berlin und Brüssel aufteilt, ist die Vorsitzende von „British in Europe“ (BIE), einer Lobbyorganisation, die versucht, die Rechte britischer Bürger in der EU zu bewahren. „Es ist ein komplexes Bündel von zusammenhängenden Rechten, die wir als EU-Bürger haben“, sagt Golding. „Das Recht auf Freizügigkeit, das Recht zu arbeiten, selbstständig zu sein, Zugang zu Renten, Krankenkasse und Sozialversicherung, das Recht auf Gleichbehandlung, Anerkennung unserer Qualifikationen“, zählt sie auf und setzt noch schnell ein „und viele mehr“ hinzu. Sobald ein Recht wegfalle, löse das einen Domino-Effekt aus, sagt die Anwältin.

Ein Erhalt des Status quo wäre das beste Ergebnis

Gemeinsam mit „The 3 Million“, einer Gruppe, die die Interessen der EU-Bürger in Großbritannien vertritt, bearbeiten Golding und ihre Mitstreiter deshalb seit Monaten die Entscheidungsträger auf beiden Seiten. Sie haben Michel Barnier getroffen, den Verhandlungsführer der EU, Guy Verhofstadt, der im EU-Parlament für den Brexit zuständig ist, ebenso wie Vertreter des Brexit- und Innenministeriums in Großbritannien.

Das beste Ergebnis, auf das sie bei ihren Anstrengungen hoffen können, ist der Erhalt des Status quo. „Wir haben diese Rechte erworben“, sagt Golding, „rechtmäßig, in dem guten Glauben und mit der legitimen Erwartung, dass wir sie für den Rest unseres Lebens haben würden. Diese Rechte müssen jetzt geschützt werden.“

Britische Regierung macht bislang keine gute Figur

Dass eine Lösung für die Frage der Bürgerrechte auf beiden Seiten des Ärmelkanals gefunden werden muss, und das möglichst schnell, ist Konsens. Die EU hat die Angelegenheit zu einer von dreien erklärt, bei denen „ausreichende Fortschritte“ gemacht werden müssen, bevor überhaupt über eine zukünftige Beziehung zwischen dem Königreich und den EU-Ländern gesprochen wird. Die beiden anderen, nicht weniger kon­troversen Punkte sind die Schlussrechnung und das Problem der nordirischen Grenze.

Nicht alle sind angesichts der Ausgangslage überzeugt, dass es diese Fortschritte geben wird – auch, weil die britische Regierung bislang keine gute Figur gemacht hat in den Verhandlungen. Brexit-Minister David Davis, ein glühender Befürworter des Ausstiegs, begann seine Aufgabe mit Enthusiasmus, aber Lücken in der Sachkenntnis. So schrieb er noch im Mai 2016 auf Twitter von einem „britisch-deutschen“ Deal nach dem Ausstieg – offenbar in Unkenntnis der Tatsache, dass Deutschland als Mitglied der EU allein keine Handelsverträge schließt. Lange schien die britische Seite zudem unvorbereitet. Nichts illustriert das besser als ein Foto aus der ersten Verhandlungsrunde: Da sitzen EU-Verhandler mit dicken Stapeln von Unterlagen einer britischen Delegation gegenüber, vor der ein einsames Notizheft auf dem Tisch liegt.

Seitdem sind einige Verhandlungsrunden vergangen, doch Lösungen sind bislang nicht in Sicht. Nach dem letzten Treffen der Delegationen konnte in keinem der drei Knackpunkte ein Durchbruch vermeldet werden.

Es könnte einen Brexit wie einen Klippensturz geben

Michel Barnier bestätigte am Dienstag in einem Interview im „Handelsblatt“, dass die EU-Seite den Zeitpunkt, über eine zukünftige Beziehung zu reden, noch nicht gekommen sieht. Vielleicht im Dezember, „alle strengen sich an“, so Barnier. Eigentlich hatte dieser zweite Teil der Gespräche im Oktober beginnen sollen. Mit jedem Treffen der Verhandler, das ohne Ergebnisse zu Ende geht, wächst die Sorge, dass es im März 2019 statt eines geordneten Austritts einen sogenannten Cliff-Edge-Brexit geben könnte – ein Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU ohne Vereinbarung, abrupt wie der Sturz über eine Klippe. Wie es dann für Menschen wie Jon Worth weitergehen würde? „Wir wissen es nicht“, gab May in einem Interview zu.

„Ich glaube, es gibt eine sehr reelle Gefahr, dass Großbritannien nach Ablauf der Zwei-Jahres-Frist aus der EU herausfallen könnte und sich im Hinblick auf Abkommen in einer Situation wiederfinden könnte, die schlimmer ist als die von Weißrussland“, sagt Steve Bullock. Bullock, der als Brite in Brüssel lebt, war lange in der britischen Vertretung bei der EU tätig und hat auf der Arbeitsebene zahlreiche Abkommen mitverhandelt. Er beobachtet die Verhandlungen aufmerksam – und sieht das Agieren der britischen Regierung mit Sorge. Der britischen Seite sei nicht klar, dass die EU-Länder wann immer möglich geschlossen und im Konsens agieren. „Ich habe das Gefühl, dass die britischen Minister schlechte Nachrichten einfach ignorieren“, sagt Bullock.

Jon Worth will sich für seine Zukunft nicht auf die Regierung seines Heimatlandes verlassen. „Nach allem, was wir bisher von der britischen Regierung gehört haben, haben die überhaupt kein Interesse, sich um unsere Belange zu kümmern“, sagt er. „Ich vertraue der EU-Seite und der deutschen Seite viel mehr.“ Egal, wie die Verhandlungen ausgehen: In Deutschland bleiben will er in jedem Fall.