„Wie wäre es, wenn sich nun SPD und CDU auf Landesebene zusammenrauften und ideologiefrei das Bildungssystem reformierten?“

„Eine Große Koalition bildet man nicht deshalb, weil man sich davon einen unmittelbaren parteitaktischen Vorteil verspricht, sondern weil eine Partei ihre staatspolitischen Vorstellungen durchsetzen will.“
Willy Brandt

170809Ombudsrat041_2

Günther der Treckerfahrer ist eine norddeutsche Institution. Aus der Perspektive des munteren Landmanns kommentiert der Satiriker Dietmar Wischmeyer jeden Morgen im Frühstücksradio treffsicher das Tagegeschehen. Sein Thema kürzlich: die niedersächsische Landtagswahl und die Frage: Wer soll mit wem regieren? Die „Riesenzunge an der Waage“ sei die FDP, die nun den Preis für eine Ampel-Koalition in die Höhe treibe. Sie fordere den Kopf des grünen Landwirtschaftsministers („Glyphosatfresser Meyer“), dieser könne ja Gleichstellungsbeauftragter in Bad Gandersheim werden. Die SPD werde in Wahrheit der Verlierer einer Ampel sein: Sie müsse aufpassen, dass die Staatssekretäre der Koalitionspartner „keine fetten Audis als Dienstwagen bestellen“. Damit habe die Staatskanzlei genug zu tun. Und die CDU könne sich gleich mal wieder hinlegen.

Bumms, das sitzt. Politisches Kabarett im Privatradio, wo sonst hauptsächlich Banalitäten über den Äther gehen.

Tucholsky schrieb 1929: „Die Satire muss übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird.“ Werden also die Prognosen des Satirikers Wischmeyer wahr? Wird die niedersächsische FDP doch mit SPD und Grünen koalieren? Der Rückzug der vielgescholtenen Kultusministerin Frauke Heiligenstadt ist ein Indiz, dass die Sozialdemokraten den Liberalen im Koalitionspoker Schlüsselressorts anbieten. Doch wahrscheinlich ist die Angst der FDP, als ewige Umfallerpartei dazustehen, zu groß um mitzuregieren.

So muss sich die CDU nicht gleich wieder hinlegen – auch, wenn nicht nur der Satiriker die niedersächsischen Christdemokraten als träge Truppe empfinden mag. Tatsächlich konnte Ministerpräsident Stephan Weil viele Attacken der CDU recht mühelos kontern. Zwar nutzte Bernd Althusmann die in weiten Teilen dilettantische rot-grüne Schulpolitik oder die Vergabeaffäre als Wahlkampfmunition, nur verfehlte er häufig sein Ziel. Denn Amtshinhaber Weil trug eine Art kugelsichere Weste. Offenbar verzeihen viele Wähler ihrem Landesvater Fehler, wenn sie den Eindruck gewinnen, dass er von einer Königsmörderin gestürzt werden könnte. Zudem hatte die CDU neben dem wackeren Wahlkämpfer Weil auch den Bundestrend gegen sich: Wer hätte mit so starken Verlusten der Union bei der Bundestagswahl gerechnet?

Trotz allem ist der Regierungszug für die CDU in Hannover noch nicht abgefahren – und vermutlich wäre eine Große Koalition für Niedersachsen auch nicht das Schlechteste. Bündnisse der beiden großen Volksparteien stehen seit jeher in der Pflicht, mit ihrer satten Parlamentsmehrheit die ganz großen Probleme anzupacken. Im Bund war das während der Wirtschaftskrise 1966 bis ’69 und in der Finanzkrise 2008 der Fall. Wie wäre es also, wenn sich nun SPD und CDU auf Landesebene zusammenrauften und ideologiefrei das Bildungssystem reformierten? Denn viel wichtiger als die Diskussion um Dreigliedrigkeit oder Gesamtschulen sind ausreichend Lehrer, kleine Lerngruppen und moderne Technik in den Klassenzimmern. Statt wie bisher Schulformen gegeneinander auszuspielen, sollte es vielmehr darum gehen, an allen Bildungseinrichtungen die Arbeits- und Lernbedingungen zu verbessern. Die verheerenden Ergebnisse der jüngsten Untersuchung zum Lernstand der Grundschüler sind alarmierend genug.

Eine Große Koalition könnte auch eine tragfähige, zukunftsorientierte Verwaltungsreform umsetzen. In unserer Region werden die wachsenden Gegensätze zwischen Stadt und Land besonders deutlich. Während in Braunschweig das Leben pulsiert, sterben im Landkreis Helmstedt manche Dörfer. Fusionen starker und schwacher Kommunen sollten erleichtert werden. Die neue Landesregierung sollte außerdem die Verkehrsanbindungen vom platten Land in die Zentren verbessern, damit sich junge Fachkräfte nicht nur in den ohnehin prosperierenden Speckgürteln um Braunschweig und Wolfsburg niederlassen.

Auf diesem Politikfeld hat Rot-Grün erste Punkte für unsere Region gemacht. Offenbar haben das auch viele Wähler so empfunden, denn alle 14 Direktmandate zwischen Osterode und Gifhorn gingen an die SPD. Die Christdemokraten sollten sich dringend sich auf Ursachenforschung begeben: Weshalb haben sie alle neun Wahlkreise in der Region, die bei der Landtagswahl 2008 noch schwarz waren, verloren?

Unsere Berichterstattung über das schwache Wahlergebnis der CDU ärgert Leser Manfred Müller aus Braunschweig. Er schreibt uns: „Ich habe genug von fulminanten Siegen, krachenden Niederlagen und so weiter. Beim morgendlichen Zeitungslesen fällt mir eine feuerrote Seite entgegen: ,CDU im Sinkflug’. Bitte geben Sie mir nicht das Gefühl, ein zumindest rötlich gefärbtes Blatt abonniert zu haben.“

Lieber Herr Müller, tatsächlich ist die landespolitische Landkarte in unserer Region eher rot als schwarz. Als Zeitung bleiben wir jedoch bunt und überparteilich. Auch der Vorsitzende des CDU-Landesverbandes Braunschweig, Frank Oesterhelweg, kritisierte in einer ersten Reaktion am Wahlabend eine angeblich einseitige Berichterstattung unserer Zeitung. Inzwischen ruderte er zurück: Parteiinterne Streitigkeiten und Differenzen mit unserer Zeitung hätten keine entscheidende Rolle gespielt. Der Pulverdampf lichtet sich knapp eine Woche nach der Wahl – in Hannover und in unserer Region.

Einen aktuellen Artikel zum Thema finden Sie hier: Wahl versemmelt – Regieren noch drin