„Charisma muss sich nicht auf großer Bühne entfalten. Das richtige Wort zur richtigen Zeit kann im kleinsten Kreis fallen.“

Als Frank-Walter Steinmeier im März sein Amtszimmer im Schloss Bellevue bezog, waren sich alle Parteien einig: Die Erwartungen an den Bundespräsidenten seien diesmal besonders groß, es seien schließlich besondere Zeiten. Es müssten Antworten her auf die Populisten, die Flüchtlingskrise, die Kriege und den Terrorismus. Wer sich nun nach 100 Tagen Steinmeiers im neuen Amt fragt, wo denn bitte dessen großes Thema bleibt, dem möchte man eine Gegenfrage stellen: Geht’s noch? Offensichtlich breitet sich in Deutschland ein gewaltiges Missverständnis aus – über die tatsächliche Aufgabe des Staatsoberhauptes. Dem Präsidenten wird gemeinhin zugeschrieben, er müsse über die Macht des Wortes verfügen, da er im Staatsgefüge sonst nicht viel zu sagen habe. Eine Botschaft müsse er verkaufen, so wie es etwa bei Roman Herzog („Durch Deutschland muss ein Ruck gehen“) der Fall war. Nun stand Steinmeier bislang nicht für die große Rede, sondern für das Wirken im Verborgenen – ein Diplomat, der stets die Grenzen des Machbaren im Blick behalten und gut zuhören musste. Wenn er sich diese Eigenschaften bewahrt, ist er ein Glücksfall für das Land. Das Grundgesetz überlässt dem Staatsoberhaupt große Freiheiten in der Ausgestaltung seiner Aufgabe. Steinmeier hat bisher vor allem eines getan: zugehört. Charisma muss sich nicht zwingend auf großer Bühne entfalten. Das richtige Wort zur richtigen Zeit kann im kleinsten Kreis fallen.