„Teure Medikamente zu verschreiben und einzunehmen, obwohl nur Bettruhe Remedur verspricht, das ist doch ziemlich postfaktisch.“

„Die einzige Methode, gesund zu bleiben, besteht darin, zu essen, was man nicht mag, zu trinken, was man verabscheut, und zu tun, was man lieber nicht täte.“
Mark Twain

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Alles schnieft und hustet sich durch den Tag – es ist ein Traumwetter für Krankheitserreger. Sie gehen auf Wanderschaft durch die Familien, meist sind erst die Kinder, dann die Eltern dran. Wenn Viren im Spiel sind, hat die pharmazeutische Industrie wenig zu bieten, das für mildere Krankheitsverläufe und den Hausgebrauch taugt.

Viele von uns schlucken dennoch allerlei Mittelchen, die nur den Apotheker und die Hersteller gesund machen. Die Zeitschrift „Öko-Test“ untersuchte einen bunten Strauß von Grippemitteln. Ergebnis: Das einzige Präparat mit dem Urteil „gut“ war die gute alte Ladung Acetylsalicylsäure (hier angereichert mit Vitamin C), die seit Anfang des letzten Jahrhunderts unsere Kopf- und Gliederschmerzen dämpft. Neben der über hundertjährigen Dame Aspirin und ihren preiswerten Nachahmerschwestern sahen alle anderen alt aus. Entweder die Wirkstoffe waren nach Meinung der Tester bedenklich oder im Zusammenwirken sogar gesundheitsschädlich.

Dazu passt die Recherche unserer Berliner Kollegen von dieser Woche. Nach einer Studie der Krankenkassen bringt jedes dritte neue Medikament dem Patienten nichts. So wertvoll die Arzneimittelforschung ist, die schwer kranken Menschen Linderung und Heilung bringt, so klar ist die Profitorientierung der Branche. Auf den Markt kommt offenbar, was eine Zulassung erhält und die Kassen zu füllen verspricht. Seit fünf Jahren müssen die Kassen den Nutzen neuer Medikamente bewerten und Preisverhandlungen führen – das hat die negativen Folgen der Schein-Innovationen aber lediglich gelindert.

Ganz allgemein sollten wir Anwender uns selbstkritisch befragen. Nehmen wir wirklich nur dann Medikamente, wenn wir sie brauchen? Es fehlt uns an elementaren Kenntnissen. Wenn man einer Umfrage der EU-Kommission vom Sommer glauben darf, weiß nicht einmal jeder zweite Deutsche, dass Antibiotika gegen Viren nichts ausrichten. Wir liegen damit im europäischen Durchschnitt, dürfen aber in Demut zur Kenntnis nehmen, dass zum Beispiel drei Viertel der Schweden wissen, was den Virus beeindruckt. Das Ergebnis: Es werden zu viele Antibiotika geschluckt. Und wenn wir die Mittel brauchen, weil uns schwere bakterielle Infektionen befallen, haben die Erreger dazugelernt, die Medikamente wirken nicht mehr.

Fast so schauerlich wie der Irrglaube an die Macht des Antibiotikums ist übrigens, was die EU-Kommission aus dem Umfrageergebnis machte. Obwohl die Einnahme von Antibiotika um sechs Prozent zurückgegangen war, stieß Kommissar Vytenis Andriukaitis den schrillen Ruf nach einem EU-Programm aus. Im englischen Text verwendet er die Begriffe „tackle“, „combat“ und „urgent action“ – da vergießt mancher erfahrene Kriegsberichterstatter Tränen der Rührung.

Abrüstung tut Not. Wir brauchen kein EU-weites Programm zur Antibiotika-„Awareness“, nur weil der Umfrage zufolge 80 Prozent der Griechen fehlinformiert sind. Bei uns kommt kein Patient einfach so an Antibiotika. Zwischen uns und den Apotheker hat das Arzneimittelgesetz den Arzt gesetzt. Die Mediziner wissen sehr genau, dass Antibiotika sparsam verschrieben werden sollten. Das Problem: Viele tun es dennoch auf Verdacht und ohne auch nur die Möglichkeit einer bakteriologischen Untersuchung anzudeuten. Dagegen hilft keine Aufklärungskampagne, sondern nur Qualitätsmanagement der Kassen, der Ärzteorganisationen und des Staates. Dass gewisse Patienten wider alle medizinische und wirtschaftliche Vernunft mit Arztwechsel drohen, wenn man ihnen nicht den Chemiecocktail ihres Vertrauens verschreibt, kann keine Entschuldigung sein.

Vielleicht ist das postfaktische Zeitalter ja viel früher angebrochen, als wir alle dachten. Teure Medikamente zu verschreiben und einzunehmen, obwohl nur Bettruhe Remedur verspricht, das ist doch ziemlich postfaktisch.

Ein anderes Thema, das in dieser Woche viele Menschen bewegte, hat mit Werteorientierung zu tun. Das skandalöse Verhalten der Salzgitteraner Silvester-Clique gegenüber der Feuerwehr ist vielleicht nur das besonders krasse Symptom einer wesentlich tiefer liegenden Problematik. Stefanie Kurth aus Wolfenbüttel erklärte in ihrem Leserbrief: „Ich habe den Eindruck, dass sich hier in diesem vermeintlichen Rechtsstaat mittlerweile jeder alles erlauben kann, weil Gesetze und Strafen überhaupt nicht mehr greifen und schon gar nicht abschrecken.“ Ein harter Satz, der nicht aus der Luft gegriffen ist.

Befindet sich unsere Gesellschaft auf dem Holzweg? Schrecken die feinen Ziselierungen unserer rechtsstaatlichen Verfahren die Strafverfolger inzwischen mehr ab als die Straftäter? Wie kann es sein, dass „Intensivtäter“ der Polizei eine Nase drehen, weil sie kurz nach der Verhaftung schon wieder freikommen? Wie konnte der Attentäter Anis Amri in Berlin zwölf Menschen ermorden, obwohl die Behörden offenbar seine Gefährlichkeit und seine IS-Kontakte kannten? Für eine Abschiebung habe es keine gerichtsfeste Grundlage gegeben, heißt es nun.

Die Innen- und Justizpolitiker haben dringende Justierungsarbeit vor sich. Viele Bürger nehmen wahr: Der Rechtsstaat hat Schnupfen. Wir sollten es nicht bis zur Lungenentzündung kommen lassen.