Braunschweig. Sonntag ist wieder Gedenktag, dabei war er schon vor 100 Jahren umstritten. Der Volksbund kritisiert eine gewisse Gleichgültigkeit.

Unser Leser Martin Kämmer bemerkt:

Selbstverständlich ist der Volkstrauertag zeitgemäß. Das sollte sich auch nicht ändern.

Zum Thema recherchierte Andre Dolle

Am Sonntag legen Bürgermeister und Politiker wieder Kränze an Kriegsdenkmälern nieder: Es ist Volkstrauertag. Er wurde nach dem Ersten Weltkrieg durch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge eingeführt. Der Geschäftsführer des Bezirksverbands Braunschweig, Michael Gandt, beklagt im Interview eine zunehmende Gleichgültigkeit der Menschen.

Der Volkstrauertag wurde nach dem Ersten Weltkrieg, vor knapp 100 Jahren also, eingeführt. Schon damals war sein Sinn umstritten. Die einen sahen im Krieg ein Ideal, wollten alles für das Vaterland opfern, andere gaben die Parole aus: nie wieder Krieg! Wofür steht der Volkstrauertag heute?

Unbedingt das Letztere: nie wieder Krieg! Der Volkstrauertag steht für die individuelle Trauer der Angehörigen derer, die im Krieg Vater, Mutter, Bruder oder Schwester verloren haben. Es leben nicht mehr viele dieser Erlebnisgeneration, aber noch einige, außerdem deren Kinder. Andererseits erinnert der Volkstrauertag an die Folgen von Krieg und Gewaltherrschaft, er ist eine Mahnung für den Frieden.

In den Städten und Gemeinden unserer Region werden vornehmlich Kränze an den Kriegsdenkmälern niedergelegt, im Bundestag wird das Lied vom guten Kameraden gespielt, dann die Nationalhymne. Warum liegt der Akzent noch so stark auf dem Militärischen?

Das hängt mit dem Ursprung des Volkstrauertages zusammen. Er wurde erstmals in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts als Erinnerung an den Ersten Weltkrieg begangen. Damals lag der Schwerpunkt des Gedenkens auf den gefallenen Soldaten. Der Erste Weltkrieg war der letzte Krieg, in dem die Anzahl der getöteten Soldaten die der getöteten Zivilisten überschritten hat. Im Zweiten Weltkrieg zum Beispiel gab es doppelt so viele zivile Opfer wie getötete Soldaten. Das Lied vom guten Kameraden ist eine gute Tradition und erhaltenswert. Im Laufe der Zeit hat sich die Trauer auf die zivilen Toten erweitert. Wir gedenken nicht mehr nur der Gefallenen, sondern aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.

Ausgehend von den jetzigen Generationen sind im Ersten Weltkrieg die Ururgroßväter und im Zweiten Weltkrieg die Urgroßväter und Großväter gefallen. Auch aufgrund des zeitlichen Abstands: Ist Volkstrauer noch zeitgemäß?

Ja, ich denke, dass der Volkstrauertag noch zeitgemäß ist. Er erinnert an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Die Kriegsgräber mahnen zum Frieden. In Braunschweig legen wir aber bewusst Kränze auf dem Gräberfeld der Bombenopfer nieder. Die Masse sind getötete Zivilisten.

Die Franzosen haben den Volkstrauertag umgewidmet. Sie feiern ein „Fest des Friedens“. Wäre das in dieser Konsequenz auch in Deutschland denkbar?

Ich kann mir das vorstellen. Der Akzent des Friedens ist auch bei uns aber schon sehr ausgeprägt.

Wir beschreiten den Weg auch?

Unser Motto lautet schon jetzt: Arbeit für den Frieden – Versöhnung über den Gräbern. Das geht ja auch aus den Gedenkreden hervor – sei es im Bundestag oder bei den vielen Veranstaltungen in unserer Region. Wir hatten in den vergangenen Jahren ein breites Spektrum an Rednern: Braunschweigs Ex-Domprediger Joachim Hempel, Oberbürgermeister Ulrich Markurth oder ein Militär, der Kommandeur des Landeskommandos Niedersachsen. Dieses Jahr wird Pfarrer Rüdiger Becker, Chef der evangelischen Stiftung Neuerkerode, auf unserer zentralen Veranstaltung in Braunschweig sprechen.

Wie steht es um das Interesse der Menschen am Volkstrauertag in unserer Region?

Wir müssen feststellen, dass das Interesse am Volkstrauertag abnimmt, wenn man es an den Besucherzahlen bei den Gedenkveranstaltungen festmacht. Das bedauern wir. Es handelt sich eben nicht nur um einen Tag der individuellen Trauer, sondern auch um eine Mahnung an den Frieden.

In Mitteleuropa herrscht seit mehr als 70 Jahren Frieden. Das ist ein großes Glück. Wissen wir das in unserer schnelllebigen Zeit genügend wertzuschätzen?

Viele Menschen nehmen das als Selbstverständlichkeit hin, weil sie selbst nie Krieg erlebt haben. Das ist bedauerlich. Umso wichtiger ist es, am Volkstrauertag innezuhalten und dankbar für eine so lange Zeit des Friedens zu sein. Wir müssen uns immer vor Augen führen, was die Folgen von Krieg und Gewaltherrschaft sind: Millionen von Toten.

Aus der Nazi-Zeit, dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte, werden sich auch kommende Generationen nicht verabschieden können. Kommt das Gedenken an diese Zeit am Volkstrauertag zu kurz?

Nein. Wir schließen die Opfer des Nationalsozialismus in unser Gedenken ausdrücklich mit ein. Das gilt auch für die Opfer anderer Gewaltherrschaften wie des Kommunismus in der Sowjetunion.

Sie sagen, dass das Interesse der Menschen am Volkstrauertag abnimmt. Bedarf es nicht doch einer Modifizierung? Falls ja: Wie könnte diese aussehen?

Wir binden schon seit vielen Jahren Jugendliche mit ein – bereits bei der Planung. Dieses Jahr wird in Braunschweig zum Beispiel die Gaußschule einen Beitrag leisten. Der Volkstrauertag ist zeitgemäß, es gibt aber eine gewisse Gleichgültigkeit einiger Menschen diesem Tag oder dem Volksbund gegenüber. Wir brauchen keine neuen Konzepte, sondern mehr Präsenz in den Medien. Wir machen am heutigen Samstag wieder den Auftakt in der Fußgängerzone in Braunschweig. Dabei bemerken wir oft: Viele Menschen wissen gar nicht mehr, was der Volkstrauertag und der Volksbund eigentlich sind.

Auch Kirchen, Parteien und Gewerkschaften haben weniger Mitglieder, weniger Bedeutung. Wie kann der Volksbund aus eigener Kraft heraus mehr auf sich aufmerksam machen?

Wir sind im Internet präsent, nun auch in den sozialen Medien. Wir haben eine Datenbank mit 4,6 Millionen Einträgen, über die Menschen gefallene oder vermisste Angehörige finden können. Wir machen Jugendarbeit, haben einen Bildungsreferenten in unserem Bezirk. Wir machen Schulprojekte, haben in der vergangenen Woche mit einer Schulklasse eine Gedenktafel gestaltet. Die Schüler setzen sich so mit Krieg und dessen Folgen auseinander. Wir versuchen also, die Jugend mitzunehmen. Wir betrachten unsere Arbeit als Friedensarbeit.