Braunschweig. Mehr als nur ein Kreuz auf dem Zettel? Ein erfahrener Wähler und eine junge Wählerin erklären, warum ihnen wählen wichtig ist.

Warum gehen Sie wählen? Gerhard Schildt, Jahrgang 1937, ist ehemaliger Professor für neuere Geschichte der TU Braunschweig und in der DDR aufgewachsen. Ricarda Vauti, 18 Jahre alt, hat gerade ihr Abitur gemacht und vor drei Wochen zum ersten Mal den Bundestag gewählt. Sie setzt am Sonntag nicht nur ihre Kreuze für die Landtagswahl, sondern stimmt auch – aufgrund ihrer österreichischen Staatsbürgerschaft – für das dortige Nationalparlament ab. Geraldine Oetken hat das Gespräch zwischen den beiden Wählern moderiert.

Warum ist Ihnen die Wahl am Sonntag wichtig?

Vauti: Ich gehe wählen, weil ich mich einbringen möchte. In der Schule habe ich Geschichte und Erdkunde belegt. Da haben wir immer wieder über Infrastruktur gesprochen und ich merke, was ich ändern möchte, verbessern möchte. Deswegen wähle ich die Partei, die das für mich widerspiegelt in der Politik.

Schildt: Ich denke, ich habe eine Verantwortung. Und zwar fühle ich mich sehr deutlich als derjenige, der mit Millionen anderen Bürgern den Staat beherrscht. Diese Aufgabe muss ich erfüllen und das heißt: zur Wahl zu gehen. Ich bin in der DDR groß geworden. Da war das glatte Gegenteil der Fall. Wir wurden beherrscht. Wir durften nicht sagen, was wir dachten. Hier kann uns keiner etwas vorschreiben. Das heißt, ich habe das Sagen. Die Politiker richten sich zu einem hohen Teil nach mir und den anderen Wählern.

Wie fühlt sich Wählen für Sie an?

Vauti: Als ich aus der Wahlkabine kam, nach meiner ersten Bundestagswahl vor drei Wochen, habe ich mich gefreut: Ich habe etwas gewählt, ich habe etwas getan. Ich habe der deutschen Politik meine Meinung mit dem Kreuz gegeben. Das erste Gefühl, das ich hatte, war befreiend und locker.

Schildt: Bei mir ist das auch immer noch so. Genau so. Ein ganz großer Vorteil an der Demokratie ist, dass sie ihre Politik relativ leicht revidieren kann. Wenn die Wähler feststellen, dass es mit einer Regierung nicht läuft, nach vier oder fünf Jahren können wir wieder an die Wahlurne und sagen: Ändern! In einer Diktatur ist das nicht machbar.

Sind Wahlen in Österreich anders?

Vauti: Dort wird viel mehr Wahlkampf gemacht als hier. In Österreich gab es auch viele politische Skandale. In Deutschland geht es im Gegensatz dazu extrem ruhig zu. Mein Vater hat mich früher überredet, die TV-Duelle zu schauen. Aber ich merke jetzt, dass es wirklich interessant ist, diese Diskussionen anzuschauen. Vor zwei, drei Jahren hätte ich das nicht gedacht.

Gibt es heute einen Unterschied zum Wahlkampf früher?

Schildt: Heute geht es ruhiger zu als früher. Unter Adenauer, dem ersten Bundeskanzler, ging es sehr, sehr hart mit gegenseitigen Vorwürfen zur Sache.

Ich gehe wählen weil ...

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    Wie informieren Sie sich über die verschiedenen Parteien?

    Vauti: Ich schaue die Parteiprogramme durch und lese in der Zeitung über die Politiker. Da merkt man immer aber wieder, dass sie versuchen, Dinge schönzureden.

    Schildt: Aber das ist auch das Gute: Wir sind die Chefs. Die Politiker versuchen, bei uns einen guten Eindruck zu machen. Das ist das Tolle an der Demokratie.

    Wie war das Wählen in der DDR?

    Schildt: Wählen in der DDR war Quatsch. Man kam ins Wahllokal, da saß ein Mann, der gab dir den Zettel und zeigte drauf: Da, da muss das Kreuz hin.

    Vauti: Die Wahlen waren gar nicht richtig geheim?

    Schildt: Nein. Das war überhaupt keine Wahl. Nachdem ich den Zettel dann in die Urne geworfen habe, war ich nur schlechter Laune. Ich konnte noch nicht einmal nicht zur Wahl gehen. Noch nicht einmal das! Sie müssen sich vorstellen, man ist unablässig kontrolliert. Was glauben Sie, wie oft ich lobende Aufsätze über Stalin geschrieben habe? Ich habe den gehasst wie nichts. Aber das musste man machen. Sonst wäre ich von der Schule geflogen.

    Ich hab das ein einziges Mal erlebt: Demokratie in der DDR. Unsere Klasse musste in der Schule einen Gruppensekrektär wählen, das war der oberste FDJler in der Klasse. Dazu kriegten wir vom Lehrer die Order, dass wir einen Jungen wählen sollten, der noch gar nicht in der Klasse war. Doch sein Vater war der Werftdirektor in Wismar.

    Wir hatten dann zwei Pausen Zeit zu überlegen: Was machen wir? Ich bin also in die Bresche gesprungen und habe mich wählen lassen. Und das hat funktioniert. Die ganze FDJ von der Schule hat gesagt: „Oh Gott, der Gerhard Schildt.“ Aber sie haben nichts gemacht – oder nicht machen können. Doch das ist eine Ausnahme in der DDR gewesen.

    Vauti: Sie haben gesagt, als Sie in der DDR gewählt haben, dass Sie kein gutes Gefühl hatten. Jetzt, bei demokratischen Wahlen, fühlen Sie sich aber gut. Das allein finde ich so faszinierend.