Braunschweig. Auch nach dem Nein von Kanzlerin Angela Merkel zur Rente mit 70 hält der Finanzminister längerfristig ein höheres Rentenalter für angebracht.

Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) unterstützte am Mittwochabend seinen Parteifreund Carsten Müller beim Wahlkampf in Braunschweig.

Andre Dolle sprach mit Schäuble.

Was halten Sie von den Vorschlägen von EU-Kommissionspräsident Juncker, der einen Euro für alle und ein Europa ohne Grenzen fordert?

Das Plädoyer von Präsident Juncker ist, dass wir Europa handlungsfähiger machen, die EU stärken. Der Grundtenor seiner Rede ist ganz auf der Linie der Union und meinen persönlichen Vorstellungen. Das entspricht auch den bestehenden Zielen: Im Lissabon-Vertrag steht, der Euro ist die Gemeinschaftswährung für alle Staaten. Die Voraussetzungen dafür, zum Beispiel ein solider Haushalt, muss allerdings jedes Mitgliedsland erst erfüllen. Die Länder in Osteuropa müssen in der Lage sein, auch mit einer stabilen, harten Währung, über die sie selber nicht mehr durch Abwertung entscheiden können, wirtschaftlich auszukommen. Das hat Juncker auch gar nicht infrage gestellt.

Wann sind wirtschaftlich schwächere Länder wie Rumänien und Bulgarien denn bereit, den Euro zu bekommen?

Die EU-Kommission und die Europäische Zentralbank beurteilen dies. Dann entscheiden die Mitgliedsländer. Beide Länder unternehmen große Anstrengungen, um ihre Entwicklung voranzutreiben. Sie setzen Reformen im Sozialbereich und auf dem Arbeitsmarkt um. Und sie müssen natürlich solide haushalten, müssen die Regeln des EU-Stabilitäts- und Wachstumspakts erfüllen. Wir sollten sie auf diesem Weg ermutigen, das wird aber noch dauern.

Was heißt das konkret?

Eine Jahreszahl will ich nicht nennen. Wir haben am Beispiel Griechenlands gesehen, dass Länder nicht zu früh aufgenommen werden dürfen.

Sie werden am Montag 75, wirken alles andere als politikmüde. Sie treten erneut in Ihrem Wahlkreis in Offenburg an. Was treibt Sie an?

Ich interessiere mich für Politik, die Welt mit all ihren Herausforderungen und Chancen ist wahnsinnig spannend. Die Möglichkeit, daran mitzugestalten, fasziniert mich noch immer.

Das gilt auch für das Amt des Finanzministers?

Vor den Wahlen mache ich nie eine Äußerung darüber, was nach den Wahlen sein könnte.

Die FDP besteht auf ein Einwanderungsrecht, die Grünen auf ein Ende fossiler Verbrennungsmotoren und die SPD auf ein Festschreiben des Rentenniveaus. Welche Kröte schluckt die Union?

Jeder wirbt für seine Vorstellungen. Je klarer die Parteien ihre Ziele darlegen, umso besser. Vor vier Jahren haben wir die SPD gegen ihren Willen dazu gezwungen, eine Politik der Null-Verschuldung zu machen. Die SPD konnte nicht bestreiten, dass wir für unsere Position mehr Zustimmung von den Wählern erhalten haben.

Sie haben die Rente mit 70 ins Spiel gebracht, Kanzlerin Merkel...

...nein, ich habe diesen Begriff nie verwendet, tut mir leid. Ein heute geborenes Kind hat eine Lebenserwartung, die durchschnittlich bei 90 liegt, viele werden 100 werden, sagt die Forschung. In einer solchen Zeit kann das Renteneintrittsalter aber nicht in alle Ewigkeit in Stein gemeißelt sein. Das habe ich gesagt. Bis 2030 ist alles geregelt. Wir werden jedes Jahr die Altersgrenze um einen Monat anheben. Bis 2030 sind wir bei 67.

Aber Kanzlerin Merkel hat die Rente mit 70 kategorisch ausgeschlossen, Sie halten sich das noch offen. Wofür steht die CDU denn?

Es gibt einen sachlichen Zusammenhang zwischen Rente und Lebenserwartung, diesen bestreitet auch Angela Merkel nicht. Im TV-Duell mit Martin Schulz hat sie, als sie darauf angesprochen wurde, eine klare Aussage abgegeben. Sonst wäre das zu einem unnötigen Wahlkampfthema geworden. Noch einmal: Bis 2030 ist alles geklärt, dann schauen wir weiter. Wir müssen eine vernünftige, sachbezogene Debatte führen.

Sie hätten jetzt noch einmal die Gelegenheit, das klarzustellen.

Das habe ich gerade gemacht.

Elisabeth Wolf aus Braunschweig fordert: „Der Progressionsbauch muss weg.“ Was sagen Sie Ihr?

Wir wollen 15 Milliarden Euro verwenden, um die kalte Progression bei den unteren und mittleren Einkommen zu senken. Damit ist der Bauch zwar nicht ganz beseitigt, aber er wird flacher.

Die Union will die Familien zusätzlich entlasten, will ein Baukindergeld einführen, das Kindergeld um 25 Euro erhöhen. Gleichzeitig sollen die Rüstungsausgaben auf 70 Milliarden Euro erhöht werden. Wie ist das alles zusammen möglich?

Mit der Zahl 70 haben Sie es aber auch (lacht). Jeder weiß, dass wir mehr für die innere und äußere Sicherheit aufwenden müssen. Wir werden mehr tun müssen, um Afrika zu stabilisieren, werden mehr in die Entwicklungshilfe investieren müssen. Und wir wollen weiterhin einen ausgeglichenen Haushalt. Unser Spielraum bei den Steuerentlastungen ist begrenzt, andere fordern mehr als die Union. Wir müssen das mit Maß und Verstand machen.

In der Griechenland-Krise wurden Sie als Nazi dargestellt. Brennt sich das ein?

Das sind Vorwürfe, die überhaupt nicht treffen. Mir ist klar, dass bestimmte Sparmaßnahmen meine Popularität in Griechenland nicht gerade gesteigert haben. Ich habe ein gutes Gewissen, deswegen

hat mich so etwas auch nicht verletzt. Ich treffe immer wieder Griechen, die mir danken und sagen, sie hätten den Ansatz verstanden.

Außenminister Sigmar Gabriel wirft Ihnen vor, EU-Partner ständig zu maßregeln und damit zu verärgern. Sie müssten aufhören, sich und anderen einzureden, Deutschland sei Zahlmeister und Lastesel der EU. Was entgegnen Sie ihm?

Sigmar Gabriel ist im Wahlkampf, er verliert manchmal den Bezug zur Realität. Ich habe beide Worte nie verwendet. Es war übrigens ein sozialdemokratischer Finanzminister, Hans Apel, der sagte: „Wir sind nicht der Zahlmeister Europas.“ Wenn Gabriel sich in Europa umhört, wird er wissen, dass wenige in Deutschland mich an Engagement für Europa übertreffen. Bei Gabriel bin ich mir da nicht so sicher: Wenn wir die Schulden einiger Mitgliedsstaaten vergemeinschaften, wie Gabriel das will, geht es abwärts mit Europa. Das sind Fehlanreize.

Aber ist es nicht unmöglich, Reformen umzusetzen und zu sparen?

Die Länder wie Griechenland, Spanien oder Portugal müssen ja nicht sparen. Sie dürfen nur nicht mehr ausgeben, als sie einnehmen. Wenn sie ihre Einnahmen steigern, können sie auch mehr ausgeben. Sie können aber nicht auf Dauer mehr ausgeben, als sie einnehmen und dann erwarten, dass andere Länder das bezahlen. Mit seiner Polemik beweist Herr Gabriel nur, dass er es nicht kann.

Deutschland hatte sich unter Kanzler Schröder doch auch seine Zeit genommen. Es dauerte, bis die Agenda 2010 gegriffen hat.

Schröder und Lafontaine hatten zuerst die gute wirtschaftliche Entwicklung in der zweiten Hälfte der 90er Jahre abgewürgt. Das wird oft verdrängt. Deutschland galt unter Schröder als der kranke Mann Europas. Dann hatte er seine eigenen Fehler korrigiert. Kanzlerkandidat Schulz will nun die Reformen Schröders wieder rückgängig machen. Die SPD hält die Agenda 2010 bis heute im Kern nicht für richtig. Das zeigt: Die SPD sollte in der Opposition wieder zur Vernunft kommen.

FAKTENCHECK

„Wir können die Flüchtlinge im Mittelmeer nicht ertrinken lassen“

„Die Obergrenze funktioniert nicht.“

(Wolfgang Schäuble)

Die CSU will die Obergrenze, doch Kanzlerin Angela Merkel garantierte kürzlich eine Absage. Nun legte Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) bei einem Wahlkampftermin in Braunschweig nach. Die Obergrenze funktioniere schon rein praktisch nicht. „Wir können den Flüchtlingen im Mittelmeer ja nicht sagen, sie sollen nächstes Jahr wiederkommen. Wir können sie nicht ertrinken lassen.“ Die Analyse Schäubles ist einfach, aber bestechend. Und auch rechtlich ist eine Obergrenze mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Genfer Flüchtlingskonvention und der EU-Grundrechtecharta nicht vereinbar. Das musste Österreich schon anerkennen. ad