Wolfsburg. Die Autobauer stimmen sich regelmäßig ab. Verbraucherschützer rechnen mit einer Klagewelle wegen des möglichen Autokartells.

Unser Leser, der sich „Kalle“ nennt, schreibt auf unseren Internetseiten:

Kann es nicht auch sein, dass das Ganze daher kommt, weil festgelegte Normen gar nicht eingehalten werden können?

Die Antwort recherchierten Christina Lohner, Hannah Schmitz und unseren Agenturen

Unser Leser fragt sich offenbar, ob die Politik den Autobauern so strenge Grenzwerte aufbürdete, dass diese technisch überfordert waren – und deshalb in die Trickkiste griffen. Bevor sich die Ursache für ihre Absprachen klären lässt, müssen die Kartellwächter aber erst einmal prüfen, ob die Vereinbarungen von Audi, BMW, Daimler, Porsche und VW überhaupt die Grenze der Legalität überschritten. „Zunächst gilt die Unschuldsvermutung“, betont neben dem Bundeskartellamt auch Hans-Gerhard Seeba, Professor für Automobilwirtschaft an der Ostfalia-Hochschule.

Dass die Hersteller eng zusammenarbeiten, ist kein Geheimnis. Die Branche trifft sich regelmäßig bei Tagungen oder in Arbeitsgruppen des Verbands der Automobilindustrie, betreibt gemeinsame Forschungs- und Entwicklungsprojekte und pflegt sogar strategische Partnerschaften einzelner Hersteller. Solange sich der Austausch im vorwettbewerblichen Bereich abspielt, ist das unproblematisch, manchmal sogar zum Vorteil der Kunden. „Es ist durchaus nachvollziehbar, wenn die Hersteller gewisse Technologien gemeinsam entwickeln und festlegen wollen, um bei der Elektromobilität und selbstfahrenden Autos vorne zu liegen“, sagte der Präsident des Bundeskartellamtes, Andreas Mundt, vor eineinhalb Jahren in einem Interview – und zeigte sich offen für Standards für einheitliche Batterien, Ladestationen oder teilweise auch Software. „Wir haben in Europa ja auch überall die gleichen Steckdosen.“ Dafür sind Freistellungen vom Verbot von Vereinbarungen zwischen Unternehmen möglich.

Grundsätzlich sind Absprachen, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken, illegal. Ob Unternehmen gegen dieses Verbot verstoßen haben, müssen die Kartellbehörden im Einzelfall klären, wie auch beim Verdacht des Autokartells. Die fünf Hersteller sollen sich nach Recherchen des „Spiegel“ jahrzehntelang über Technik, Kosten und Zulieferer abgestimmt haben.

Zwar sei auch die Autobranche nicht vor einem Kartell gefeit, sagt Seeba. Aus kaufmännischer Sicht kann er sich dies aber nur schwer vorstellen. Denn in der Branche herrsche ein enormer Preis- und Technikwettbewerb.

Falls der Vorwurf doch stimmt, wäre dies nach Einschätzung von Stefan Bratzel, der das Auto-Institut in Bergisch Gladbach leitet, „alles andere als nur ein Kavaliersdelikt“. Der Branchenkenner hält mögliche Absprachen für einen „Super-Gau für die Glaubwürdigkeit“. Die Aufdeckung komme zur Unzeit: mitten hinein in die Diskussionen um Diesel-Fahrverbote in Städten, mögliche Nachrüstungen und rückläufige Diesel-Neuzulassungen.

Bratzel fordert harte Konsequenzen – die bisherige „Kultur des Wegschauens“ in der Politik sei nicht mehr möglich. „Es besteht ohnehin der Eindruck in der Bevölkerung, dass die Politik die Gesundheitsinteressen der Menschen geringer bewertet als die wirtschaftlichen Interessen der Automobilindustrie.“ Die Branche stehe nun vor einem grundlegendem Paradigmenwechsel. „Es ist zu hoffen, dass Diesel-Skandal und Autokartell bei einer grundlegenden Aufarbeitung zu einer notwendigen Katharsis in den Unternehmen führen.“

Das sagt die Politik

Unions-Fraktionschef Volker Kauder rief die Autokonzerne am Montag auf, „reinen Tisch“ zu machen. Sollten sich die Kartellverstöße bewahrheiten, wofür vieles spreche, „muss man schon den klaren Satz sagen: Recht und Gesetz gelten auch für die Autoindustrie“, sagte der CDU-Politiker im ARD-„Morgenmagazin“.

Wie bereits die Grünen verlangte die Linksfraktion im Bundestag eine rasche Sondersitzung des Verkehrsausschusses. Das sagte Herbert Behrens, Ex-Chef des Untersuchungsausschusses zum Abgas-Skandal. „Der Verkehrsminister muss erklären, was er im Zusammenhang mit den ungeheuerlichen Vorwürfen gegen die führenden deutschen Automobilhersteller zu tun gedenkt.“

Im niedersächsischen Landtag kritisierten sowohl SPD als auch FDP, dass die VW-Aufsichtsräte nicht über die angebliche Selbstanzeige vor einem Jahr informiert wurden. Dass der Vorstand Ministerpräsident Stephan Weil und Wirtschaftsminister Olaf Lies (beide SPD) nicht ernst nehme, sei das eine, sagte Stefan Birkner, Vizechef der FDP-Fraktion. „Unabhängig von der Wertschätzung einzelner Personen ist es nicht hinnehmbar, wenn die Aufsichtsräte des Anteilseigners Niedersachsen von einer kartellrechtlichen Selbstanzeige aus den Medien erfahren müssen.“

Das sagen Arbeitnehmervertreter

Auch die Arbeitnehmer wollen informiert werden. „Wir verlangen eine Aufklärung der Vorgänge, damit ein erneuter Schaden von den Beschäftigten abgewendet werden kann“, forderte Hartwig Erb, Chef der Wolfsburger IG Metall. „Werden die Vorwürfe bestätigt, sind die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.“

Die Profite der Großkonzerne dürften außerdem nicht zulasten der Belegschaften der kleinen und mittelständischen Betriebe in der Autoindustrie erwirtschaftet werden. „Diesem Treiben muss Einhalt geboten werden.“

Sowohl der Betriebsrat von Porsche als auch der von VW hatten bereits am Wochenende auf Aufklärung bestanden. Dem schloss sich am Montag Daimlers Betriebsrat an. „Arbeitsplätze dürfen nicht durch kartellwidriges Verhalten riskiert werden. Wir brauchen eine vollständige Aufarbeitung“, sagte Gesamtbetriebsratschef Michael Brecht, der auch stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender des Stuttgarter Dax-Konzerns ist. „Es ist eindeutig, dass danach Konsequenzen gezogen werden müssen“, fügte er an.

Das sagen Verbraucherschützer

Deutschlands oberster Verbraucherschützer Klaus Müller rechnet mit einer Klagewelle. Er geht von zehntausenden Verfahren aus, in denen Autokäufer Schadenersatz für überteuerte Fahrzeuge verlangen könnten. Wegen der im Raum stehenden Absprachen der Hersteller hätten viele Kunden einen „möglicherweise viel zu hohen Preis“ für ihre Fahrzeuge gezahlt, sagte der Chef des Bundesverbands der Verbraucherzentralen der „Süddeutschen Zeitung“.

Die Verbraucherzentrale dringt nun erneut darauf, per Gesetz eine Musterklage möglich zu machen, damit mutmaßlich betrogene Kunden nicht einzeln vor Gericht gehen müssen, sondern sich zusammentun können. Das gehöre zu den ersten Aufgaben der künftigen Regierung nach der Bundestagswahl im September, sagte Müller. Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU), Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) und Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries (SPD) hatten am Wochenende gefordert, die Vorwürfe schnell aufzuklären.