Braunschweig. Im Haus der Wissenschaft erklären Experten: Mobbing habe zugenommen, bei Gewalt sei vor allem die Sensibilität gewachsen.

Es sind klare Zahlen, die am Dienstagabend auf dem Podium im Haus der Wissenschaft präsentiert werden. Laut der neuesten Kriminalstatistik ist die Zahl der Gewaltverbrechen im letzten Jahr um 12.156 Fälle auf 193.542 gestiegen. 2015 waren es noch 181.386.

Knapp 40 Besucher sind trotz der sommerlichen Temperaturen erschienen, um eine Antwort auf die Frage zu bekommen: „Ausschreitungen, Mobbing, Übergriffe: Verändert sich die Gewalt in Deutschland?“ NDR-Moderatorin Mayke Walhorn, Soziologe Helge Peters, Psychologe Thomas Bliesener und Kriminologe Rafael Behr diskutierten bei der gemeinsamen Veranstaltung unserer Zeitung mit NDR Info und dem Haus der Wissenschaft. Die Podiumsdiskussion gehört zur Reihe „Logo – Wissenschaft aus Braunschweig“.

Zunächst müsse man festhalten, dass der Gipfel der Gewalt deutlich zurückliege, erklärt Thomas Bliesener. „2007 war sie mit knapp 220.000 Fällen deutlich höher. Seitdem sind die Delikte rückläufig. Nur 2016 stiegen sie an“, sagt er. Helge Peters ergänzt: „Ein großer Teil der Entwicklung hängt damit zusammen, dass unsere Empfindlichkeit gestiegen ist.“ Was auch daran liege, dass das Anzeigeverhalten zugenommen habe. Außerdem habe sich die Vorstellung von Gewalt verändert, so der Soziologe.

Aber man könne doch nicht leugnen, dass die Zahl der jugendlichen Tatverdächtigen um 2000 gestiegen sei im Vergleich zum Vorjahr und fast jeder sechste 15-Jährige laut einer PISA-Studie gemobbt werde, entgegnet Mayke Walhorn. „Wir wissen trotzdem nicht, wie gewalttätig die Gesellschaft tatsächlich ist“, sagt Rafael Behr. Dazu müsse beachtet werden, dass die Gewalt sich auf bestimmte Gruppen beschränke und nicht allgemein davon auszugehen sei, dass zum Beispiel die Jugendkriminalität zunehme.

Der Zunahme von (Cyber-)Mobbing widerspricht hingegen keiner der Diskutanten. „Durch die Neuen Medien erleben wir eine andere Dimension von Mobbing“, sagt Bliesener. Es gebe zwei entscheidende Faktoren. Erstens: Die Möglichkeiten haben zugenommen. „Bilder und Videos lassen sich schneller verbreiten. Viele wollen einfach sehen, was passiert“, meint der Psychologe. Zweitens würden einige nicht die Schwelle zum Mobbing erkennen, ergänzt Behr. „Sie empfinden es als Spaß, wenn sie das Bild einer Person über ihr Smartphone verzerren und herumschicken. Doch hier fängt Mobbing bereits an,“ sagt der Kriminologe.

Das Potenzial habe sich zwar nicht verändert, aber Mobbing habe zugenommen, meint der Soziologe Helge Peters. Denn: „Mobbing kann sich schneller ausbreiten als früher. Aus Langeweile Mitschüler zu drangsalieren, das gab es früher auch schon. Doch die Möglichkeiten, sich auszuleben, sind wesentlich höher.“ Wenn Bilder und Videos einmal im Netz seien, könnten sie sich millionenfach verbreiten.

Moderatorin Mayke Walhorn wirft die Frage auf, ob Anti-Aggressionstraining in Schulen sinnvoll wäre. Es gebe bereits bundesweit Präventionsprogramme gegen Mobbing, antwortet Behr. Zum Beispiel in Hamburg. „Die Polizisten kommen in den Unterricht und klären die Schüler auf“, sagt er. Prävention im Alltag müsse noch deutlicher werden, bekräftigt Behr.

An Schulen gebe es mehr Fälle von unerlaubtem Waffenbesitz, behauptet Walhorn. Thomas Bliesener widerspricht ihrer Aussage klar: „Das ist nicht anders als früher. Zu meiner Schulzeit hatten viele ein Taschenmesser. Damals störte es nur niemanden.“ Es gebe mittlerweile mehr Kontrollen in den Schulen, daher würden Lehrer auch mehr Waffen finden, erklärt er.

Mehr Kontrollen, die Androhung von Strafen: Am Verhalten würde sich dadurch wenig ändern, sagt Helge Peters. Der Professor von der Universität Oldenburg erklärt, dass eine scharfe Strafandrohung nicht gleich Prävention sei. „Schauen Sie sich Staaten mit einem scharfen Strafrecht an. Dort ist die Kriminalität sehr hoch. Staaten mit einem lockeren Strafrecht weisen eher eine niedrigere Kriminalität auf.“