Tiflis. Am Eliava-Institut in Tiflis werden Menschen mit Bakterienviren behandelt. Viele von ihnen sind verzweifelte Patienten aus der EU.

Das Eliava-Institut hat schon bessere Zeiten gesehen. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges lieferte die Einrichtung in einer eigenen Produktionsabteilung mit hunderten Mitarbeitern hergestellte Phagenmedikamente aus Tiflis in die gesamte Sowjetunion. Benannt ist das 1923 gegründete Institut nach dem georgischen Mikrobiologen George Eliava, einem der Entdecker der Bakterien-Viren.

Heute gibt es keine Produktionsabteilung mehr. Das Gebäude, in dem die Apotheke und eine kleine Klinik untergebracht sind, könnte dringend einen neuen Anstrich vertragen. Im Treppenhaus bröckelt nicht nur der Putz, sondern auch die Stufen. Allerdings ging es dem Institut auch schon schlechter. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Georgischen Bürgerkrieg (1991-1993) war es nahezu ruiniert. Nun zeugen die restaurierten Säulen des Hauptgebäudes wieder von der stolzen Geschichte. Die Klinik wird mit Geldern aus den USA unterstützt, auf Laborgeräten kleben Sticker mit Europafahne und der Aufschrift: „Zur Verfügung gestellt von der Europäischen Union“.

„Wir kommen langsam an die Grenzen unserer Klinik. Im Juli 2016 hatten wir 16 Patienten aus dem Ausland.“
„Wir kommen langsam an die Grenzen unserer Klinik. Im Juli 2016 hatten wir 16 Patienten aus dem Ausland.“ © Mzia Kutateladze, Direktorin des Eliava-Instituts in Georgien

„Wir haben eine gute und große Infrastruktur. Es gibt in Georgien nicht viele Institute, die wie wir unabhängig sind von den Universitäten“, sagt Dr. Mzia Kutateladze, die Direktorin des Eliava-Instituts. Mittlerweile interessierten sich immer mehr Forscher aus dem Westen für die Arbeit der Wissenschaftler in Georgien. „Noch vor 15 Jahren wurden wir für Verrückte gehalten. Wir haben lediglich auf ein paar Konferenzen Vorträge gehalten. Mittlerweile wird es immer deutlicher, dass Antibiotika versagen, und man sucht nach Alternativen.“

Doch nicht nur unter Wissenschaftlern spricht sich die georgische Phagentherapie herum. „Wir stoßen langsam an die Grenzen unserer Klinik“, sagt Kutateladze. Gerade einmal sieben Ärzte und drei Pfleger arbeiten in der Praxis, die aus nicht mehr als einem Wartezimmer, einem langen Gang und einem halben Dutzend winziger Behandlungszimmer besteht. „Im Juli 2016 hatten wir 16 Patienten aus dem Ausland. Daneben läuft die Versorgung der einheimischen Patienten.“

„Ich wollte warten, bis Phagen in Frankreich zugänglich sind. Aber ich kann nicht mehr länger warten.“
„Ich wollte warten, bis Phagen in Frankreich zugänglich sind. Aber ich kann nicht mehr länger warten.“ © Florence Souchet, Patientin in der Klinik des Eliava-Instituts

Phagen gegen eine alte Kriegsverletzung aus Vietnam

Letztere lassen hier ihre Alltagsinfektionen vom Durchfall bis zur Blasenentzündung behandeln. In Georgien ist das Standard. Die Bushaltestelle vor dem Institut trägt bei Google Maps die Bezeichnung „Bacteriophage“. Auch im Hotel einige Straßen weiter kennt man das Institut. „Ich war als Kind da. Die haben einen sehr guten Ruf. Bei uns übernachten auch viele Patienten aus Deutschland“, sagt Hoteldirektor Zurab, bevor er anfängt, in Erinnerungen an Spiele zwischen Dinamo Tiflis und Eintracht Braunschweig zu schwelgen.

Diese Patienten aus Deutschland und anderen westlichen Staaten kommen allerdings nicht nach Tiflis, um ihre Allerweltsinfektionen behandeln zu lassen. Für sie ist das Institut häufig die letzte Station einer langen medizinischen Odyssee.

„Grundsätzlich können wir keine Garantien geben. So etwas wie eine Erfolgsrate gibt es nicht. “
„Grundsätzlich können wir keine Garantien geben. So etwas wie eine Erfolgsrate gibt es nicht. “ © Naomi Hoyle, Koordinatorin des Eliava-Programms für ausländische Patienten

So wie für Michael Snidecor. Der Israeli lässt sich zum zweiten Mal mit Phagen behandeln. Grund seines Leidens ist eine alte Kriegsverletzung: „1968 wurde ich in Vietnam von der Explosion einer 122-Millimeter-Rakete am Bein erwischt“, erzählt der in Michigan geborene promovierte Psychologe und Experte für Schmerztherapie. Die Wunde heilte zwar zunächst, doch waren Bakterien ins Knochenmark gelangt: Osteomyelitis.

Die Folge sei ein jahrelanges Leiden gewesen. Auf dem Höhepunkt der Erkrankung habe der Keim das Rückenmark infiziert und eine Lähmung verursacht. „Ich habe rund um die Uhr intravenös Antibiotika bekommen. Trotzdem musste ich zusehen, wie die Lähmung Zentimeter für Zentimeter voranschritt“, sagt Snidecor. In einer Verzweiflungstat sei seine Frau nach Georgien gereist und habe einen Phagen-Cocktail mitgebracht, den er sich in Israel illegal selbst injizierte. „Manchmal muss man einfach das Richtige tun, auch wenn es gegen Regeln verstößt“, sagt der orthodoxe Jude und fügt hinzu: „Die Phagen haben mir das Leben gerettet.“

Doch obwohl die Lähmung verschwand und sein Bein verlorene Funktionen zurückgewann, konnte Snidecors Osteomyelitis nie vollständig geheilt werden. Die alte Wunde heilte, brach aber immer wieder auf. Auch Hauttransplantationen halfen nicht dauerhaft. Nach einem schweren Autounfall Anfang 2016 gelangte die Infektion erneut ins Rückenmark, und auch die Wunde öffnete sich wieder. Nun hofft der Israeli, dass die Phagen ihn noch einmal retten können. Während seines Aufenthalts in Georgien wird die Wunde immer wieder mit Wasserstoffperoxid gereinigt und anschließend mit einer Phagenlösung behandelt. Für die Selbsttherapie zu Hause hat er sich außerdem reichlich mit Medikamentenschachteln aus der Apotheke eingedeckt.

„Seine Begeisterung geht auch uns etwas zu weit“, sagt Dr. Naomi Hoyle. Die junge Amerikanerin ist die Ansprechpartnerin des Instituts für ausländische Patienten. Sie ist von der Wirksamkeit der Phagentherapie überzeugt und wirbt eifrig dafür – im Internet-Kurznachrichtendienst Twitter hat sie sich den Namen „@phagegirl“ gegeben –, aber sie warnt vor überzogenen Hoffnungen: „Es funktioniert nicht immer. Phagen sind kein Wundermittel.“

Seit einem Ski-Unfall 1978 ist der Knochen infiziert

Doch genau das ist es, was viele der ausländischen Patienten suchen. Auch Florence Souchet aus Paris plagt eine Knocheninfektion. „1978 habe ich mir bei einem Ski-Unfall das rechte Bein gebrochen. Mir wurde damals ein Stück Metall eingesetzt“, erinnert sich die Französin. Der Anfang eines langen Leidenswegs: Es folgten unzählige Operationen und Behandlungen mit Antibiotika. „Immer wieder musste ein Teil des Knochens entfernt werden. Mir wurde als Ersatz sogar ein Stück Koralle eingesetzt.“

Zuletzt hätten ihre Ärzte ihr empfohlen, all die in den vergangenen Jahren eingesetzten Materialien wieder entfernen und den infizierten Knochen abtragen zu lassen. „Das käme einer Amputation nahe“, klagt Souchet. Sie lehnte ab. Dann las sie in der Zeitung einen Artikel über Phagen. „Ich wollte warten, bis die in Frankreich zugänglich sind. Aber ich kann nicht mehr länger warten.“ Souchet ist von den Medizinern in ihrem Heimatland schwer enttäuscht. „Die wissen nichts“, sagt sie über ihre Ärzte, denen sie die Schuld an ihrem Leid gibt.

Nun sitzt die Französin seit einer Woche jeden Tag in der Klinik in Tiflis und lässt Phagen auf ihr Schienbein auftragen. Zusätzlich trinkt sie morgens und abends einen Phagen-Cocktail gegen verschiedene Stämme von Pseudomonaden und Staphylokokken, der auf diese Weise, so hofft sie, über das Blut ins Knochenmark gelangen soll. Die Injektion direkt ins Blut, wie Snidecor es gemacht hat, ist auch in Georgien nicht zugelassen. Erste Erfolge will die Französin schon nach vier Tagen erkannt haben: „Die Wunde schließt sich bereits“, sagt Souchet. Nun hofft sie, dass die Phagen den mit Keimen besiedelten Knochenzement in ihrem Schienbein erreichen und säubern.

Auch hier ist Naomi Hoyle zurückhaltender. Ein solch durchschlagender Erfolg sei unwahrscheinlich. Die georgischen Ärzte raten Souchet daher ebenfalls zur von den französischen Kollegen vorgeschlagenen Operation. „Grundsätzlich können wir keine Garantien geben. Viele Patienten fragen nach der Erfolgsrate. So etwas gibt es nicht. Wir haben zwar viele Erfolge, aber jeder Fall ist so individuell, dass sich daraus keine allgemeine Aussage machen lässt“, gibt die Kinderärztin zu bedenken. Manche Patienten müsse die Klinik auch abweisen.

Gegen Tuberkulose wurde beispielsweise bisher kein wirksamer Phage gefunden. Auch die Borreliose lässt sich auf diese Weise nicht behandeln, weil die Bakterien ins Innere der Körperzellen eindringen und dort vor Phagen geschützt sind. „Es gibt auch einige Erreger, bei denen derzeit nach passenden Phagen gesucht wird, die aber noch nicht therapeutisch einsetzbar sind“, so Hoyle.

Die meisten ausländischen Patienten werden aber nicht abgelehnt. Auch bei schwer zu behandelnden Infektionen wie Osteomyelitis sind die georgischen Ärzte überzeugt, helfen zu können. 3900 Dollar kostet die 14-tägige Standardbehandlung. Geld, das das Institut gut gebrauchen kann.

„Das ist wirklich wichtig“, räumt Hoyle ein. „Die Klinik ist Teil der Eliava-Stiftung, einer gemeinnützigen Organisation, die keine Gewinne erzielt. Überschüsse fließen an die Stiftung, die entscheidet, was damit geschieht und ob sie beispielsweise in die Forschung investiert werden.“

Diese Forschung besteht etwa aus der Suche nach neuen Phagen, die für die Therapie genutzt werden können. Dafür sammeln die Wissenschaftler des Instituts Bodenproben aus der Umwelt und testen, ob sich in ihnen Phagen befinden, die im Labor angezüchtete Bakterienkulturen zerstören.

Ganz ähnlich gehen die Forscher an der Deutschen Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ) in Braunschweig vor, zu denen das Eliava-Institut enge Kontakte pflegt. Hier in Georgien ist man allerdings – aufgrund der langen Erfahrungen mit der Phagentherapie – weniger zurückhaltend. Auch Phagen, deren Erbgut noch nicht sequenziert wurde, kommen zum Einsatz. „Wir stellen aber sicher, dass wir ausschließlich lytische Phagen verwenden“, sagt Institutsleiterin Mzia Kutateladze. Die Patienten bekommen also ausschließlich Viren verabreicht, die die Bakterien, die sie infizieren, auch zerstören, statt ihr Erbgut in ihnen einzulagern.

Ohne klinische Studien gibt es keine Zulassung in der EU

Dies vorausgesetzt, sieht Kutateladze keine Gefahren der Therapie: „Während der Sowjetzeit wurde nach Risiken gesucht, ohne dass welche gefunden werden konnten. Selbst bei intravenöser Anwendung nicht. Das liegt daran, dass Phagen so spezifisch wirken.“

Doch die Behörden in der EU und den USA konnte dies bisher nicht überzeugen. Sie verlangen das aufwendige Zulassungsverfahren mit mehrjährigen klinischen Studien nach strengen wissenschaftlichen Standards. „In der Sowjetunion gab es keine doppelt verblindeten, randomisierten, kontrollierten Studien. Die in unserem Archiv gesammelten Erfahrungen basieren vor allem auf Fallberichten“, erklärt Kutateladze. Das macht die vielen Akten des Instituts letztlich zu nicht mehr als einer großen Sammlung medizinischer Anekdoten - keine ausreichende Evidenz für Sicherheit und Wirksamkeit.

Dennoch sieht die Direktorin Fortschritte. „Ich werde optimistischer, weil immer mehr Länder sich interessieren. Vielleicht muss die Phagentherapie durch einen Genehmigungsprozess wie bei Biopharmazeutika. Vielleicht wird sie als personalisierte Medizin zugelassen, was ein wichtiges Zukunftsfeld in der Medizin ist.“

Auch Naomi Hoyle hegt solche Hoffnungen: „Phagen sollten eine von mehreren zugänglichen Alternativen zu Antibiotika für Patienten überall auf der Welt sein“, fordert sie. Auch im Westen gebe es bereits Therapien, die nicht die strengen Standards der evidenzbasierten Medizin erfüllen müssten. Womöglich könnten Phagen als alternative Heilmethode wie Traditionelle Chinesische Medizin oder Homöopathie eingestuft und reguliert werden.

Welche Entwicklung die Phagentherapie in westlichen Gesundheitssystemen auch nehmen mag, für Patienten wie Michael Snidecor und Florence Souchet wird sie zu spät kommen. Die Französin hat das Vertrauen in ihr Gesundheitssystem verloren. Sie bezeichnet die Forderung nach klinischen Studien wütend als „Blödsinn“: „In dieser Zeit sterben Menschen.“ Der Israeli ist weniger aufgebracht, sagt aber auch: „Ich verstehe nicht, warum der Rest der Welt nicht mitmacht.“

Heute, ein halbes Jahr später, geht es Florence Souchet deutlich besser. Etwas mehr als zwei Monate nach Beginn der Behandlung hätten sich ihre Wunden und Fisteln vollständig geschlossen, schreibt sie in einer E-Mail. „Unglaublich ist aber das Sahnehäubchen oben drauf: Seit der MRSA-Infektion bei meiner ersten Operation hatte ich immer Schmerzen. Nun muss ich nicht mehr humpeln – zum ersten Mal seit 38 Jahren!“

Auch Michael Snidecor geht es besser. Die Wunde sei kleiner geworden, schreibt er. Ganz geschlossen habe sie sich aber nicht. Außerdem habe er sich eine neue Infektion eingefangen. Das haben Phagen mit Antibiotika gemeinsam: Wunderheilungen sind möglich – aber nicht garantiert.