Berlin. In präklinischen Studien erproben Forscher der Charité in Berlin die Wirksamkeit von Bakterienviren. Auch Risiken werden erforscht.

Keine Wirkung ohne Nebenwirkung, heißt es in der Medizin. Dass auch der Einsatz von Bakteriophagen, also von Viren, die statt menschlichen oder tierischen Zellen Bakterien infizieren und töten, Risiken mit sich bringt, liegt daher auf der Hand. Eines dieser Risiken ist die Fähigkeit von Viren, ihr Erbgut in die DNA der von ihnen infizierten Zellen einzuschleusen.

Tatsächlich führt eine Infektion mit einem Phagen nicht immer zum Tod des Bakteriums. Der sogenannte lytische Zyklus endet mit der Ausschüttung von Lysinen, Enzymen, die die Zellwand des Bakteriums durchlöchern und den Wirt auf diese Weise töten. Im „lysogenen Zyklus“ hingegen verwandelt sich das Virus in einen sogenannten Prophagen – in Viren-DNA, die in das Erbgut des Bakteriums integriert wird.

„Jede wirksame Therapie hat Nebenwirkungen, alles andere ist Wunschdenken.“
„Jede wirksame Therapie hat Nebenwirkungen, alles andere ist Wunschdenken.“ © Prof. Martin Witzenrath, Infektionsforscher an der Charité

Und das kann gefährliche Konsequenzen haben, denn mit seinen Genen kann ein Phage auch bestimmte Eigenschaften auf das Bakterium übertragen. Das Virus wird außerdem zum Transporter von Genen zwischen Bakterien. Für einen solchen horizontalen Gentransfer gibt es viele Beispiele. Darüber hinaus werden manche bakterielle Erreger durch Prophagen überhaupt erst gefährlich. Die Gene im Bakterium Vibrio cholerae etwa, welche die Herstellung des Toxins regulieren, das die schweren Durchfälle einer Cholera-Erkrankung auslöst, stammen von einem Phagen.

Dieser Mechanismus ist allerdings schon lange bekannt. Entsprechend betonen Befürworter der Phagentherapie, dass für die Behandlung von Infektionen ausschließlich lytische Phagen verwendet werden dürfen. Phagen hingegen, die auch den lysogenen Zyklus durchlaufen können, sind für die Therapie tabu, obwohl sie deutlich häufiger vorkommen als rein lytische.

„Anhand von Markergenen können wir bei der Sequenzierung des Erbguts feststellen, ob ein Phage rein lytisch ist oder lysogen, ob er Gene zur Produktion von Toxinen trägt und so weiter“, versichert Dr. Christine Rohde, Kuratorin der Phagensammlung bei der Deutschen Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ) in Braunschweig. Doch lässt sich diese Trennung aufrechterhalten? Immerhin können lysogene Phagen in den lytischen Zyklus wechseln. Geht das nicht auch andersherum, etwa durch eine genetische Mutation?

„Das wäre eine solch komplexe Gewinnmutation, dass das nahezu unmöglich ist. Dafür müsste ein komplettes Gen oder sogar eine vollständige genetische Funktionseinheit hinzukommen, und das gibt es nicht. Außerdem lässt sich das durch eine Genomsequenzierung ausschließen“, antwortet Rohde. Daher unterstützt sie die unter Phagenforschern verbreitete Forderung, dass die Sequenzierung eine Voraussetzung für die therapeutische Anwendung jedes Phagen wird.

Bisher sind keine ernsthaften Nebenwirkungen bekannt

Professor Martin Witzenrath hat sich dennoch eine gewisse Skepsis bewahrt: „Viele glauben, dass die Phagentherapie keine Gefahren birgt. Ich glaube nicht daran. Jede wirksame Therapie hat Nebenwirkungen, alles andere ist Wunschdenken.“ Das spreche aber nicht gegen die Phagentherapie. „Der Anspruch sollte nicht Risikofreiheit sein, sondern die Risiken zu kennen“, sagt Witzenrath.

Unter anderem deswegen hat der Mediziner an der Klinik mit Schwerpunkt Infektiologie und Pneumologie der Charité in Berlin eine Arbeitsgruppe zur Phagentherapie eingerichtet. Für klinische Studien an Patienten ist es zwar noch zu früh, aber Witzenrath und seine Mitarbeiter erforschen den Einsatz von Phagen im Tiermodell und in menschlichen Zellkulturen.

Die Wissenschaftler verwenden dafür Lungengewebe, das Patienten der Klinik entnommen wurde – zum Beispiel bei Tumoroperationen. Auch die Bakterien, mit denen die Zellen anschließend in der Petrischale infiziert werden, stammen aus dem Krankenhaus. „Wir untersuchen, was Phagen mit diesem menschlichen Lungengewebe machen“, erklärt Witzenrath. Hinzu kommen Versuche mit Mäusen, die mit Acinetobacter baumannii infiziert sind.

„Der Keim spielt eine wichtige Rolle in Kliniken, insbesondere bei beatmeten Patienten“, erklärt Dr. Sandra Wienhold, die als Tierärztin in Witzenraths Arbeitsgruppe forscht. Immer wieder kommt es an Kliniken zu Ausbrüchen des gefährlichen Erregers, der natürliche Resistenzen gegen viele Antibiotika aufweist und tödliche Lungen- und Hirnhautentzündungen auslösen kann. Bei einem Ausbruch am Universitätsklinikum Kiel im Januar 2015 etwa starben zwölf Patienten.

Mit den Experimenten an der Charité sollen unter anderem mögliche Risiken erforscht werden. „Die plötzliche Zerstörung vieler Bakterien könnte eine heftige Entzündungsreaktion hervorrufen“, sagt Professor Witzenrath. Eine solche Überreaktion des Immunsystems kann gefährlich werden. In Mäusen ließ sich allerdings nachweisen, dass auch Antibiotika wie Penicillin die Ausschüttung von Entzündungsstoffen auslösen können. „Solche Risiken muss man kennen, um sie gegebenenfalls in Kauf nehmen zu können – so wie bei jeder anderen Therapie.“

Die Versuche legen den Schluss nahe, dass das Risiko beherrschbar ist. So reagierten die Zellkulturen auf eine Lösung lebender Bakterien mit einer heftigen Entzündungsreaktion. Bei einer Mischung lebender Bakterien mit passenden Phagen war die Reaktion hingegen stark abgeschwächt. Bei Mäusen mit schwerer Lungenentzündung, denen inhalativ Phagen verabreicht wurden, war überhaupt kein zusätzlicher Entzündungseffekt feststellbar.

Stärke und Schwäche: Phagen attackieren nur spezielle Bakterien

Es waren die Lysine, von Phagen im Inneren des Bakteriums produzierte Enzyme, die am Ende des Vermehrungszyklus die Zellwand der Bakterien durchlöchern und dadurch sterben lassen, die Witzenrath auf das Potenzial der Bakteriophagen aufmerksam machten. „Ich stieß zufällig über eine Publikation zu Phagenlysinen“, erinnert er sich. 2009 veröffentlichte er dann seine erste eigene Studie dazu. Darin konnte der Mediziner nachweisen, dass das Lysin eines Pneumokokken-Phagen Mäuse vor dem sicheren Tod durch eine Lungenentzündung schützt. „Lysine als Medikament sind auch ein Weg, aber der Vorteil der Phagen besteht darin, dass sie sich selbst dosieren. Ohne Bakterien verschwinden sie schnell aus dem Organismus.“ Lysine hingegen müssten hoch dosiert werden. Womöglich bringen sie auch mehr Nebenwirkungen mit sich.

Phagen könnten eine Ergänzung zu Antibiotika werden, meint Witzenrath. Doch obwohl anders als in der Sowjetunion und heute noch in Teilen Osteuropas „in der westlichen Welt diese Frucht nicht geerntet“ wurde, wie der Mediziner es ausdrückt, weist er doch auch auf die Grenzen dieses natürlichen Therapeutikums hin: „Phagen wirken sehr spezifisch. Das ist ein Vorteil, kann aber auch ein Nachteil sein.“ Einen Patienten mit schwerer Infektion müsse er auf seiner Intensivstation sofort mit einem Breitbandantibiotikum behandeln, weil er zunächst nicht wissen kann, welches Bakterium die Krankheit bewirkt hat. Für den Einsatz von Phagen hingegen müsste erst einmal der genaue Erreger identifiziert werden – Zeit, in der die Krankheit gefährlich voranschreiten könnte.

Anders sei es bei chronischen Infektionen etwa des Lungengerüsts. Hier böten Phagen eine Möglichkeit, Breitbandantibiotika einzusparen. „Bei Bronchiektasen zum Beispiel, mit chronischer Besiedlung durch häufig multiresistente Bakterien, sind die Erreger bekannt. Statt hier jedes Mal Antibiotika zu geben, könnten Phagen eingesetzt werden“, sagt Witzenrath. Das schone die natürliche Mikroflora in Darm und Atemwegen. „Wenn die von Antibiotika geschädigt wird, wird das Immunsystem unaufmerksam.“

Doch bevor Phagen in der Therapie von Infektionskrankheiten eine echte Alternative werden können, bedarf es klinischer Studien, die Sicherheit und Wirksamkeit belegen. Seit Juli 2015 läuft die von der EU mit 3,8 Millionen Euro geförderte „Phagoburn“-Studie, in der an Kliniken in Frankreich, Belgien und in der Schweiz infizierte Brandwunden mit in Phagenlösung getränkten Umschlägen behandelt werden. Nach ersten Erfolgen kämpfen die beteiligten Forscher zurzeit aber mit dem Problem, nicht genügend Patienten zu finden.

Professor Witzenrath plant nun gemeinsam mit Kooperationspartnern aus Berlin und bei der DSMZ in Braunschweig eine klinische Studie, in der zunächst die Sicherheit einer zulassungsfähigen Phagenlösung geprüft wird und schließlich Patienten mit Bronchiektasen und chronischer Besiedlung durch Pseudomonas-Bakterien behandelt werden. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sagte kürzlich die Förderung der Studie zu.

Schon im Oktober 2016 hatte das BMBF zur Erforschung von Alternativen zu Antibiotika aufgerufen und dabei explizit Phagen angeführt. Zur Förderung solcher Forschung stellt das Ministerium 15 Millionen Euro zur Verfügung. Die Bakterienfresser sind in der deutschen Politik angekommen.